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OrganspendeWiderspruchslösung wäre ein wichtiges Signal

Die Spendezahlen sind 2022 erneut gesunken. Nun ist die Debatte um die Widerspruchslösung neu entbrannt, auch weil das Organspende-Register später kommt. Für Dr. Axel Rahmel, Medizinischer Vorstand der DSO, könnte die Widerspruchslösung die Situation verbessern.

Transplantationen
A. Steeger/DSO
Jede Minute zählt: Entnommene Organe müssen binnen weniger Stunden das Transplantationszentrum erreichen.

Im vergangenen Jahr kam es bei der Organspende in Deutschland erneut zu einem Rückgang. 64 Menschen weniger als im Vorjahr haben nach ihrem Tod ein oder mehrere Organe gespendet. Die Gesamtzahl der Organspender sank auf 869, den niedrigsten Stand seit 2017. Auch die Summe der entnommenen Organe, die für eine Transplantation an die internationale Vermittlungsstelle Eurotransplant gemeldet werden konnte, verringerte sich um 8,4 Prozent auf 2662. Nach wie vor stehen rund 8500 Menschen auf den Wartelisten für eine Organtransplantation. Postmortale Organspender in Deutschland

Dr. Axel Rahmel ist seit 2014 Medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO). Davor war er von 2005 bis 2014 Medizinischer Direktor der Eurotransplant International Foundation  in Leiden, Niederlande. Er ist Facharzt für Innere Medizin.

Die Stiftung hat laut Transplantationsgesetz (TPG) die Aufgabe, die postmortale Organspende in Deutschland zu koordinieren. Sie organisiert alle Schritte des Ablaufs einer Organspende – von der Entnahme bis zur Übergabe der Organe an Transplantationszentren.

Der starke Rückgang im ersten Quartal 2022 war in erster Linie auf die Omikron-Welle zurückzuführen, die zu Überlastungen in den Kliniken und immensen Personalausfällen führte. Verstärkt wurde er dadurch, dass in den ersten Monaten des Jahres ein positiver SARS-CoV-2-Nachweis eine Organspende ausschloss. Unabhängig von den Entwicklungen im Rahmen der Coronavirus-Pandemie ist ein wesentlicher Grund für die geringen Zahlen jedoch die fehlende Zustimmung zur Organspende: Bei den 2387 organspendebezogenen Kontakten im vergangenen Jahr, die nicht zu einer Organspende führten, scheiterte die Spende in der Hälfte der Fälle an einer fehlenden Zustimmung.

Unabhängig von den Entwicklungen im Rahmen der Coronavirus-Pandemie ist ein wesentlicher Grund für die geringen Zahlen jedoch die fehlende Zustimmung zur Organspende.


Besonders bemerkenswert ist dabei, dass die Organspende in weniger als einem Viertel dieser Fälle aufgrund einer Ablehnung bei bekanntem schriftlichen oder mündlichen Willen der Verstorbenen nicht erfolgte. In der Mehrzahl der Fälle stimmten die Angehörigen einer Organspende nicht zu, weil sie den Willen der verstorbenen Person nicht kannten. Entschieden die Angehörigen anhand des mutmaßlichen Willens, lag die Zustimmungsrate bei knapp über 50 Prozent. Mussten sie allein nach eigenen Wertvorstellungen entscheiden, erfolgte hingegen in fast 80 Prozent der Fälle keine Zustimmung zur Organspende.

Erste Ansätze verbessern die Situation bei der Organspende

Ansätze zur Verbesserung der Organspende ergeben sich aus den vorgenannten Analysen in Zusammenschau mit den im Transplantationsgesetz (TPG) vorgegebenen Rahmenbedingungen. Nach dem TPG sind die Feststellung des Todes durch Nachweis des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls (IHA) sowie die Einwilligung der oder des Verstorbenen bzw. die Zustimmung der Angehörigen Voraussetzung zur Organspende. Damit gibt es auch zwei zentrale Ansätze, um die Zahl der Organspenden zu erhöhen: die Seite der medizinischen Leistungserbringung in den Entnahmekrankenhäusern und die Seite der Bevölkerung. So sollten zum einen in den Entnahmekrankenhäusern optimalerweise alle potenziellen Organspender erkannt und gemeldet werden und zum anderen die Verstorbenen ihre Entscheidung zur Organspende dokumentiert oder zu Lebzeiten mündlich geäußert haben. Dieser Idealfall für die Transplantationsmedizin ist jedoch seit Jahren eher Wunschdenken als Realität – und zwar auf beiden Seiten.

Die Zahl der Organspenden lag 2022 bei 10,3 Spendern pro Million Einwohner (2021: 11,2). Einen Rückgang gab es ebenfalls bei den Transplantationen: Im vergangenen Jahr wurden in den 45 Transplantationszentren in Deutschland 2795 Organe nach postmortaler Spende übertragen. Mit der Transplantation eines oder mehrerer Organe erhielten 2695 schwer kranke Patientinnen und Patienten die Chance auf ein Überleben bzw. ein Leben mit besserer Lebensqualität (2021: 2853)

Mit Blick auf die Entnahmekrankenhäuser wies die DSO bereits vor über zehn Jahren darauf hin, dass durch konsequente Erkennung und Meldung aller potenziellen Organspender die Organspenderate voraussichtlich gesteigert werden könne. Um die dafür notwendigen strukturellen und organisatorischen Voraussetzungen in den Kliniken zu verbessern, trat das „Zweite Gesetz zur Änderung des Transplantationsgesetzes – Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende“ am 1. April 2019 in Kraft. Zu den wesentlichen Punkten dieses Gesetzes gehören die verbindliche Freistellung der Transplantationsbeauftragten (TxB) und deren Finanzierung sowie die verbesserte Vergütung der Entnahmekrankenhäuser.

Organspendezahlen sind nach Gesetzesänderung nicht gestiegen

Bislang hatte die Gesetzesänderung keine durchschlagende Steigerung der Organspendezahlen bewirkt. Die Coronavirus-Pandemie hat die Umsetzung sicherlich erschwert und verzögert – inwieweit sie jedoch die Ursache für den bislang ausgebliebenen Effekt ist, ist schwer abzuschätzen. Erfreulich ist jedenfalls, dass die Zahl der organspendebezogenen Kontakte von 3023 im Jahr 2019 auf 3256 im Jahr 2022 zugenommen hat, was einer Steigerung um 7,7 Prozent entspricht. Dies kann als Zeichen gesehen werden, dass auf Seiten der Entnahmekrankenhäuser in den vergangenen Jahren die Aufmerksamkeit für das Thema Organspende gewachsen ist. Unterstützend wirkte dabei sicherlich die flächendeckende Einführung eines vom Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden entwickelten automatisierten Screening-Tools (DETECT) zur Erkennung von Patienten mit schwerer Hirnschädigung.

Erfahrungen aus dem Vereinigten Königreich (UK), den Niederlanden und zuletzt aus der Schweiz mit solchen, auf die Steigerung der dokumentierten Zustimmung ausgerichteten Registern waren ernüchternd.


Dass die Steigerung der organspendebezogenen Kontakte bislang nicht zu einer Steigerung der Organspendezahlen geführt hat, liegt auch daran, dass das Medianalter der potenziellen Spender deutlich zugenommen hat (von 55 Jahren im Jahr 2007 auf nunmehr 61 Jahre) und damit der Anteil medizinischer Kontraindikationen. Von besonderer Bedeutung waren im Jahr 2022 jedoch die hohe Zahl an fehlenden Zustimmungen durch Angehörige in den Fällen, in denen der Wille des Verstorbenen nicht bekannt war. So rückt dieses Thema und damit auch die Diskussion um eine mögliche Einführung der Widerspruchslösung in Deutschland erneuert in den Fokus.

Zuletzt wurde im Januar 2020 im Bundestag über die rechtliche Neuregelung der Organspende debattiert. In einer fraktionsoffenen Abstimmung konnte sich die im Ausland weit verbreitete Widerspruchslösung aber nicht durchsetzen. Stattdessen stimmten die Abgeordneten für die Beibehaltung der Zustimmungslösung, nunmehr mit vermehrten Aktivitäten zur Aufklärung der Bevölkerung. Das „Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende“ trat zum 1. März 2022 in Kraft.

Organspende-Register soll helfen

Es besagt unter anderem, dass die Ausweisstellen von Bund und Ländern den Bürgerinnen und Bürgern Aufklärungsmaterial und Organspendeausweise aushändigen sollen. Ebenso soll die Hausärzteschaft ihre Patientinnen und Patienten alle zwei Jahre über die Möglichkeiten der Erklärung zur Organ- und Gewebespende hinweisen und bei Bedarf ergebnisoffen beraten. Als wichtigster Baustein wird von den Verfechtern des Gesetzes das bundesweite Organspende-Register, angesiedelt beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), angesehen. In dieses Online-Register soll die getroffene Entscheidung zur Organ- und Gewebespende eingetragen und jederzeit auch geändert werden können.

In 2022 hatten nur rund 15 Prozent derjenigen, die in den Kliniken als potenzielle Spender in Frage kamen, ihre Entscheidung auch schriftlich dokumentiert.


Die genannten Maßnahmen sollen dazu beitragen, dass es von der grundsätzlich positiven Einstellung zur Organspende in der Bevölkerung hin zu einer Zunahme des dokumentierten Patientenwillens kommt. Denn Umfragen zeigen zwar immer wieder, dass ca. 80 Prozent der Befragten für eine Organspende sind – nur leider sprechen die Zahlen aus den Kliniken eine andere Sprache: In 2022 hatten nur rund 15 Prozent derjenigen, die in den Kliniken als potenzielle Spender in Frage kamen, ihre Entscheidung auch schriftlich dokumentiert. Mit der Dokumentation der Entscheidung zur Organspende kann Angehörigen die Unsicherheit genommen werden und die zuvor beschriebene fehlende Zustimmung aus Unkenntnis des tatsächlichen Willens würde wahrscheinlich deutlich abnehmen.

Experten erwarten keine nachhaltige Verbesserung

Diesem an sich sehr begrüßenswerten Ansatz des Gesetzes steht jedoch die praktische Erfahrung in vielen Ländern mit einem Organspende-Register entgegen: Selbst mit großem Informationsaufwand hat sich in der Regel deutlich weniger als die Hälfte der Bevölkerung registriert und dies auch nur, wenn der Zugang zum Register niederschwellig möglich war. Erfahrungen aus dem Vereinigten Königreich (UK), den Niederlanden und zuletzt aus der Schweiz mit solchen, auf die Steigerung der dokumentierten Zustimmung ausgerichteten Registern waren ernüchternd. Eine nachhaltige Auswirkung auf die Organspendezahlen konnte nicht nachgewiesen werden, in allen drei Ländern erfolgte inzwischen der Wechsel zur Widerspruchslösung.

Angesichts dieser negativen internationalen Erfahrungen, aufgrund der Datenschutzanforderungen zunehmend komplexer werdenden Registrierungsprozesses, der jedenfalls viel aufwendiger ist als das Ausfüllen eines Organspendeausweises, was bislang trotz millionenfach verteilter Ausweise keinen nachhaltigen Effekt auf die Organspende hatte, wird von zahlreichen Experten keine durchgreifende Besserung der Situation durch das Register erwartet. Gleichzeitig wird der Ruf nach der Einführung der Widerspruchslösung in Fachkreisen und bei den Patientenverbänden wieder zunehmend lauter.

Das geplante Online-Register zur Organspende in Deutschland ist noch immer im Aufbau. Eigentlich sollte das Register, das beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin-produkte (BfArM) angesiedelt ist, schon am 1. März 2022 an den Start gehen. Doch das Register kämpft mit deutlichen Verzögerungen, das Vorhaben sei komplex, heißt es. Laut BfArM soll das Register voraussichtlich im ersten Quartal 2024 online gehen.

Mehr Organspender durch Widerspruchslösung?

Bei der Widerspruchslösung gelten alle Verstorbenen mit festgestelltem IHA zunächst als potenzielle Organspender. Liegt im Akutfall kein schriftliches Dokument vor, auf dem die verstorbene Person der Organspende widersprochen hat und ist auch den Angehörigen keine ablehnende Haltung bekannt, kann eine Organentnahme grundsätzlich stattfinden.

Unbestritten ist, dass in Ländern mit Widerspruchslösung die Zahl der Organspender pro Million Einwohner im Mittel höher liegt als in Ländern mit Zustimmungslösung. Weniger eindeutig ist allerdings, ob es sich bei dieser Korrelation um einen kausalen Zusammenhang handelt. So ist es auch denkbar, dass dem Vorliegen einer Widerspruchslösung und den höheren Organspendezahlen eine andere Ursache zugrunde liegt: eine positive Grundeinstellung von Gesellschaft und Politik zur Organspende und damit eine Kultur der Organspende. Vieles spricht jedoch dafür, dass eine Gesetzesänderung schrittweise auch eine Kultur der Organspende fördern kann, in der das Denken an die Organspende am Lebensende in der Gesellschaft und in den Kliniken zur Selbstverständlichkeit wird.

Beobachtungen in UK und in den Niederlanden zeigen, dass die Einführung der Widerspruchslösung auch die Nutzung des Organspende-Registers steigert.


Es ist davon auszugehen, dass die Einführung der Widerspruchslösung eine aktive Auseinandersetzung jedes Einzelnen mit dem Thema Organspende fördert. Beobachtungen in UK und in den Niederlanden zeigen darüber hinaus, dass die Einführung der Widerspruchslösung auch die Nutzung des Organspende-Registers steigert. Dies gilt insbesondere für Bürgerinnen und Bürger, die sich gegen eine Organspende entscheiden: In beiden Ländern hat die Zahl der registrierten Ablehnungen deutlich zugenommen und reflektiert in etwa den Anteil der Bevölkerung, der sich auch in Umfragen explizit gegen eine Organspende ausspricht (10-15 Prozent). Davon ausgehend, dass die Bereitschaft, ablehnende Haltungen zu äußern, deutlich ausgeprägter ist, als die Bereitschaft Zustimmung zu dokumentieren, könnte die Bedeutung des gesetzlich geplanten und vor der Einführung stehenden Organspende-Registers in Deutschland gesteigert werden.

Ein weiterer, in der Diskussion häufig vernachlässigter Effekt der Widerspruchslösung ist der Einfluss auf die Entnahmekrankenhäuser: Bei Vorliegen einer Widerspruchslösung sind alle Patientinnen und Patienten mit einer schweren primären oder sekundären Hirnschädigung zunächst einmal als Organspender anzusehen. Das führt dazu, dass bei der Behandlung am Lebensende vor einer möglichen Therapielimitierung regelhaft an die Option einer Spende gedacht wird und auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit, dass mögliche Organspender in den Kliniken nicht erkannt werden, reduziert wird.

Zusammenfassend würde eine von der Gesellschaft und der Politik getragene Widerspruchslösung ein deutliches Zeichen in Bezug auf die Organspende setzen. Prof. Eckhard Nagel, ehemaliges Mitglied des Deutschen Ethikrates, hat dies einmal treffend als „Gesellschaftliche Zustimmungslösung“ zusammengefasst. Diese gesellschaftliche Zustimmungslösung wäre ein wichtiges Signal an die zahlreichen Patientinnen und Patienten auf den Wartelisten zur Organtransplantation und ihre Angehörigen, dass gemeinsam etwas gegen den dramatischen Organmangel in Deutschland unternommen wird.

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