
Trotz der eher sportlichen vormittäglichen Temperaturen sind auf dem weitläufigen Gelände der Uniklinik Magdeburg Anfang März viele Pflegekräfte zu sehen, die ihre kurze Pause draußen verbringen. Man unterhält sich leise, trinkt Kaffee, isst etwas und raucht. Die gelöste Stimmung verrät indes nichts darüber, wie anstrengend ihr Arbeitsalltag eigentlich ist. Dass Pflegekräfte unter enormen Druck stehen, ist nicht erst seit der Corona-Pandemie klar. Auch dass sie, bedingt durch den Umgang mit Krankheit und Tod, häufig an ihre psychischen Belastungsgrenzen kommen, ist kein Geheimnis.
Schichtarbeit, niedrige Personalschlüssel, Alltagsstress und Zeitmangel fordern ihren Tribut. Seit Jahren verzeichnet die Pflege im Branchenvergleich den höchsten Krankenstand. Mit rund 21 Fehltagen pro Jahr sind die Pflegekräfte Spitzenreiter unter allen Arbeitnehmern in Deutschland. Dass ihre Arbeit am Patienten aber auch körperlich sehr herausfordernd ist, ist indes weniger bekannt. Die häufigste Ursache für die Fehlzeiten der Berufsgruppe sind nicht psychische Probleme, sondern Rückenbeschwerden sowie Erkrankungen des Muskel- und Skelettapparates.
Die Beschäftigten in der Pflege sind in ihrem Arbeitsalltag immer stärkeren psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt.
Insbesondere häufiges Stehen, schweres Heben oder Tragen bringen das Pflegepersonal oft an die Grenzen. Vor allem Rückenschmerzen verursachen bei Pflegekräften knapp 96 Prozent mehr Fehltage als in anderen Berufen. Oft liegt genau hier der Grund, dass so viele Pflegekräfte den Beruf verlassen. Laut einer Studie der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) leiden zwei von drei Pflegekräften unter Rückenbeschwerden. „Die Beschäftigten in der Pflege sind in ihrem Arbeitsalltag immer stärkeren psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt. Das muss berücksichtigt werden, wenn es darum geht, Pflegeberufe attraktiver zu machen“, postuliert etwa Sabine Deutscher vom Vorstand der AOK Rheinland/Hamburg.
Projekt „Ergo-ITS“
Für Dr. Stefan Waßmann, Arbeitspsychologe an der Universitätsmedizin Magdeburg (UMMD), ist das kein Geheimnis. Er verantwortet zusammen mit Stefanie Mewes vom Betrieblichen Gesundheitsmanagement das Projekt „Ergo-ITS“, das auf Initiative des Klinikvorstandes entstanden ist.
Auftakt des Projekts bildete eine Analyse der körperlichen Belastungen der Pflegekräfte in mehreren Intensiv- und IMC-Stationen der UMMD mittels Interviews und Beobachtungsstudien. Sie führte erwartungsgemäß zu dem Ergebnis, dass viele Teiltätigkeiten mit einer Gefährdung der Körperbereiche Schultern, Oberarme, unterer Rücken und Hüfte einhergehen. Das Ziel des Projekts ist, jene körperlichen Belastungen der Pflegepersonen mittels passgenauer Maßnahmen, die gemeinsam mit den Pflegekräften identifiziert wurden, zu lindern.
Exoskelett als Teil der Berufskleidung
Stefan Waßmann fackelt daher nicht lange und führt von seinem Büro direkt in das Haus 60a, wo sich neben dem Operationstrakt und den Ambulanzen auch die neurochirurgische Intensivstation befindet. Beim Betreten des breiten Stationsflures, von dem aus die einzelnen Patientenzimmer einsehbar sind, erscheint alles seinen normalen Gang zu gehen – zumindest im Rahmen jener Normalität von Intensivstationen. Durch die großen Fenster fällt Sonnenlicht auf Pflegebetten, in denen Patienten liegen, die gerade eine OP hinter sich haben. Von ihnen führen Schläuche zu Infusionspumpen, an den Kopfenden sind diverse Medizingeräte angebracht, auf deren Monitoren Vitalwerte zu sehen sind. Manche räuspern sich, andere liegen ganz still unter den weißen Laken. Hin und wieder piepst ein Alarm während sich die Pflegekräfte gewissenhaft um ihre Patienten kümmern.

Erst beim zweiten Blick fällt auf, dass bei einigen von ihnen die Rückenpartie ihrer Arbeitskleidung leicht ausgebeult ist. Auch an den Oberschenkeln bemerkt man die Enden von Gurtsystemen. Diese für Intensivstationspersonal eher unüblichen Teile der Berufskleidung hängen sogar direkt an der Tür zu den Patientenzimmern. Für ihre Träger dagegen scheint das normal zu sein, sie gehen entspannt ihrer Arbeit nach und begegnen fragenden Blicken mit professioneller Gelassenheit.
Ein Herzensprojekt des Klinikvorstands
„Das sind unsere Exoskelette für Pflegekräfte“, erklärt Waßmann sichtlich stolz. Sie sind das Kernstück des Teilprojektes „Erprobung Exoskelette an der UMMD“ von Ergo-ITS – und damit eine jener Maßnahmen, mit deren Hilfe die physischen Belastungen von Intensivpflegenden reduziert werden sollen. „Es handelt sich hier nicht um ein durch Krankenkassen, Bundes- oder Landesmittel finanziertes Drittmittelprojekt mit entsprechend umfangreichem Budget, sondern um ein Herzensprojekt des Klinikvorstands, welches mit eigenen Haushaltsmitteln umgesetzt wird“, stellt der Arbeitspsychologe heraus.
Mit den Vorarbeiten wurde bereits im Jahr 2023 begonnen. Zunächst wurden zwei Exoskelette des Modells „BionicBack“ angeschafft, die von dem deutschen Startup „hTRIUS“ hergestellt werden. Diese stellte Waßmann für eine erste Testphase ausgewählten Mitarbeitern des UMMD aus verschiedensten Berufsgruppen zur Verfügung. Insgesamt 19 Mitarbeitende durften sie jeweils mehrere Dienste lang tragen und anschließend über ihre Erfahrungen damit berichten. Im Ergebnis gaben die meisten Träger ihnen die Schulnote zwei: die Exoskelette sorgten demnach für die erwünschte Entlastung und Unterstützung im Rücken, führten zu bewussteren Bewegungen und eine bessere Körperhaltung. Außerdem wünschten die Träger sich eine längere Erprobungszeit, am besten in Form der Bereitstellung einiger Exoskelette pro Station, damit diese für alle Mitarbeiter frei genutzt und für bestimmte Tätigkeiten eingesetzt werden können.
Als wir mit der Idee ankamen, hat er gesagt: Super, macht das unbedingt.
„Ich musste unseren Kaufmännischen Direktor nicht lange dazu überreden. Wir haben tatsächlich einen ganz innovativen Vorstand, der das auch unterstützt. Als wir mit der Idee ankamen, hat er gesagt: Super, macht das unbedingt“, berichtet Waßmann. Gesagt, getan: Seit Januar verfügt die Intensivstation über einen Pool von sechs Exoskeletten – zusätzlich zu den vorhandenen wurden dazu neue des Modells „LiftSuit“ der Firma Auxivo aus der Schweiz, einem Spin-Off der ETH Zürich, gekauft. Auch, um im darauffolgenden sechsmonatigen Langzeittest die Unterschiede zwischen den verschiedenen Modellen im praktischen Arbeitsalltag erfahrbar zu machen. „Im Langzeittest untersuchen wir, wie das Hilfsmittel angenommen wird, auch wenn ich nicht ständig hier stehe und dazu auffordere, es anzulegen – sondern man es, wie viele andere Hilfsmittel, je nach Laune nutzen kann“, ergänzt Waßmann.
Muskelskelettentlastung und bewusstere Körperhaltung
Einer jener Nutzer ist Matthias, der gerade seinen Dienst antritt. Er ist Rettungssanitäter und transportiert als Angestellter der neurochirurgischen ITS-Patienten zu radiologischen Untersuchungen. „Ich habe eine Wirbelsäulen-OP hinter mir. Nach sieben Monaten zuhause hat mir Herr Waßmann zur Wiedereingliederung in meinen Arbeitsplatz direkt das Exoskelett zur Verfügung gestellt. Ich habe mit dem ersten System angefangen. Jetzt nutze ich das neue System hier täglich." Am Anfang sei das Anlegen des Exoskelettes zwar etwas gewöhnungsbedürftig, so Matthias. „Aber danach macht man das quasi automatisch. Unter dem Strich bin ich begeistert.“ Trotzdem gebe es noch Verbesserungsmöglichkeiten, etwa fehlten Hosenträger, die verhindern, dass der Brustgurt verrutscht.

Dem unerfahrenen Laien muss dagegen beim ersten Anlegen geholfen werden: Zuerst die Schultergurte, wie bei einem Rucksack. Anschließend die Schnallen um die Oberschenkel, dann den Bauchgurt, wie bei einem Klettergurt. Alle Schnallen zu- und festmachen – fertig. Der Ankleideprozess hat etwa drei Minuten gedauert. Das Ergebnis: Das Gefühl in Oberkörper, Becken und unterer Rücken ist so als wäre man plötzlich kräftiger. Beim Vorbeugen wird man durch die elastischen Bänder, die über Schulter- und Rückenpartie bis zu den Oberschenkeln verlaufen, gehalten, ohne dass die Muskeln sich dafür anstrengen müssten. Außerdem sorgt es für eine aufrechtere Körperhaltung, wie beim Tragen eines einen Anzugs. Die Gurtsysteme gleichen die Körperbewegungen beim Laufen so aus, dass das Exoskelett dabei nicht im Wege ist – das anfänglich ungewohnte Tragegefühl ist direkt verfolgen.
Großer Anwendungsbereich
Während wir ein leeres Patientenzimmer betreten, berichtet der Arbeitspsychologe, dass die Exoskelette nicht nur bei bereits vorhandenen Schmerzen oder chronischen Rückenbeschwerden Abhilfe schaffen: Die junge Intensivkrankenschwester Jessi etwa, die ihre Ausbildung erst im vergangenen Jahr abgeschlossen hat, hat noch keinerlei Rückenbeschwerden und trägt das Exoskelett präventiv. „Es trägt sich wirklich angenehm und ich spüre, zum Beispiel beim Umlagern von Patientinnen und Patienten, wie das Exoskelett meine Rückenmuskulatur unterstützt", sagt Jessi.
Der Anwendungsbereich ist gerade im Krankenhaus riesig, nicht nur für Pflegekräfte.
Vor einem unbelegten Patientenbett führt Matthias mit dem Exoskelett jene Bewegungen aus, für die das System Unterstützung bietet: Bei vornübergebeugten Tätigkeiten am Bett, beim Umlagern, unterstützten Aufrichten oder Aufstehen der Patienten etwa. Oder auch, um Patienten vom Bett aus auf Untersuchungs- oder OP-Tische zu ziehen. „Der Anwendungsbereich ist gerade im Krankenhaus riesig, nicht nur für Pflegekräfte. Genau genommen kommt hier jeder Bereich in Frage, bei dem die Tätigkeiten potenziell mit Belastungen des Muskel-Skelett-Systems einhergehen. Etwa dem Reinigungspersonal, dem Labor, in der Logistik oder auch Mitarbeitenden in der Sterilisation“, führt Waßmann aus. Selbst die Ärzteschafft interessiere sich dafür, ein Herzchirurg an der Uniklinik werde in Kürze auch eine eigene Studie im OP damit durchführen. „Das Interesse ist jedenfalls da – und zwar breitgefächert.“
Der Aufwand rechnet sich
Dennoch will der Arbeitspsychologe zunächst das Ergebnis des Langzeittestes abwarten. Fällt er positiv aus, kann er sich gut vorstellen, dass die Uniklinik mehr Exoskelette anschafft. Der Preis eines einzelnen Systems liegt im unteren vierstelligen Bereich. Bedenke man die Kosten von Bettensperrungen und OP-Ausfällen, die die Erkrankungen von Pflegekräften zu Folge haben, rechne sich dieser Aufwand durchaus für ein Krankenhaus. Auch vor dem Hintergrund, dass die Krankheitszeiten dem Klinikum ebenfalls Geld kosten.
„Natürlich ist das für uns als Uniklinik auch ein sehr gutes Personalmarketinginstrument, denn wir nehmen damit die Bedürfnisse unserer Mitarbeiter ernst. Aber angesichts des Fachkräftemangels und der steigenden Altersstruktur können wir uns einfach nicht leisten, Mitarbeiter auf Verschleiß zu fahren. Das Ziel muss sein, dass unsere Pflegekräfte gesund und glücklich in Rente gehen. Anders ist die zukünftige Patientenversorgung nicht zu stemmen“, betont Stefan Waßmann. Vor diesem Hintergrund könnte die Vorreiterrolle in Sachen Mitarbeitergesundheit der Uniklinik Magdeburg also durchaus bundesweit Schule machen.





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