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Künstliche Intelligenz in der Integrierten VersorgungPotenzial für den Durchbruch sektorenübergreifender Versorgungsmodelle?

Künstliche Intelligenz (KI) wird den Arzt in seiner Arbeit unterstützen, aber nicht ersetzen: KI-Algorithmen werden helfen, diagnostische Fehler zu vermeiden, die klinischen Arbeitsschritte sektorenübergreifend zu beschleunigen und die sachgerechte Leistungsabrechnung zu optimieren.

Symbolfoto: Siemens Healthineers
Der AI-Rad Companion Chest CT von Siemens Healthineers ist ein KI-basierter Software-Assistent für die Computertomografie.

In der Integrierten Versorgung kann dies zu einer gesteigerten Produktivität und zu einer datengetriebenen Arbeitswelt führen.KI eröffnet neue Möglichkeiten, um präzisere Befunde und prognostisch aussagekräftige Risiko-Scores zu erstellen. Mit den nachfolgenden Ausführungen möchte die Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung e.V. (DGIV) auf die Notwendigkeit hinweisen, auch die zunächst technisch anmutende Diskussion für die Weiterentwicklung der Integrierten Versorgung in Deutschland zu nutzen.

In den letzten Jahren hat sich KI immer weiter verbreitet und die Einsatzgebiete reichen inzwischen von der Spracherkennung bei Smartphones bis hin zu humanoiden Robotern. Es handelt sich dabei meist um Computerprogramme, die die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen nachahmen können und lernfähig sind. Für die Medizin ist besonders das „Deep Learning“ interessant, welches auf einem künstlichen neuronalen Netz beruht und dadurch neue Möglichkeiten z. B. für die medizinische Bildgebung schafft.

„Deep Learning“

Dabei werden diesem Netz zuerst ausgewählte Datensätze eingelesen, anschließend an die Zwischenschichten weitergegeben und dort verarbeitet und als Letztes wird ein Ergebnis errechnet.

Sollte dies vom tatsächlichen Output abweichen („Ground Truth“), verändert sich das Netz, bis es sich dem richtigen Ergebnis in mehreren Schritten annähert und schlussendlich neue Bilddaten mit hoher Wahrscheinlichkeit richtig interpretieren kann. „Deep Learning“ ist eine bahnbrechende Technologie, die im Zusammenspiel mit der Verfügbarkeit von schnelleren Prozessoren und höherer Leistung eine bessere Bildgebung ermöglicht.

Deep Convolutional Neural Network

Eine Sonderform künstlicher neuronaler Netze, die sich in der Bilderkennung etabliert hat, ist das sogenannte „Deep Convolutional Neural Network“. Dabei extrahiert das künstliche Gehirn aus den Daten zuerst Bildmerkmale (z. B. Ecken und Schatten) und in mehreren Schritten schließt das Netz selbstständig auf umfangreiche Bildmuster und Objekte. Der Prozess ist inzwischen so ausgereift, dass Fehler nur noch mit einer Wahrscheinlichkeit von wenigen Prozent auftreten. In naher Zukunft werden Algorithmen und Netze daher die klinische Diagnostik grundlegend transformieren.

Im Bereich der Radiologie zum Beispiel, die schon heute von der crosssektoralen Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen und einem engen Austausch ambulanter und stationärer Versorgung lebt, ergibt sich eine immer größer werdende Diskrepanz zwischen der Zahl radiologisch geschulter Ärzte und dem steigenden Bedarf bildgebender Diagnostik. Die daraus resultierende Datenflut lässt die Anforderungen an Arbeitseffizienz und Produktivität wachsen und macht es notwendig, den Arzt bei der Entscheidungsfindung mithilfe von KI zu unterstützen.

Diagnostische Fehler können gering gehalten werden

Trotz der kurzen Interpretationszeit und der immer komplexer und hochauflösenderen Bilder, können so diagnostische Fehler gering gehalten werden, da man die verfügbaren Daten mithilfe von computergestützten Verarbeitungsprogrammen interpretieren kann. Die gewonnenen klinisch relevanten Informationen („Radiomics“) können dann bei komplizierten Befunden, wie beispielweise einem schwer erkennbaren Thorax-CT, verwendet werden und dem Arzt helfen.

Anhand des Beispiels ist erkennbar, dass maschinelles Lernen und KI-Algorithmen einen immer wichtigeren Bestandteil der Bildanalyse und der gesamten Diagnostik darstellen. Damit verbunden werden wir eine Neuordnung ambulanter und stationärer Diagnostik und Therapie sehen. Hier gilt es, frühzeitig geeignete Zusammenarbeitsstrukturen, ein innovatives Qualitätsmanagement und passende Vergütungsmodelle zu entwickeln.

Risiko-Scores

In der Diagnostik können durch personalisierten, standardisierten und quantitativen Einsatz künstlicher Intelligenz Fehler bei der Befundung weiter verringert und eine präzisere Interpretation erleichtert werden. Auch die Risiko-Scores können durch die Hilfe der KI bei chronischen Krankheiten verwendet werden. Laut dem Radiologen Keith Dreyer wird diese Technologie den Arzt aber nicht ersetzen, sondern diesen unterstützen und dadurch die Qualität, Effizienz und Ergebnisse verbessern.

Auch beim Umgang mit dem Patienten sind diese Möglichkeiten einsetzbar, da man ihm so leichter Erkrankungen und Krankheitsrisiken visuell aufzeigen kann. In der Kardiologie könnten sich zudem KI-basierte Bildanalysen durchsetzen, die reproduzierbare Messungen unterschiedlicher Merkmale durchführen können und diese nicht nur bildlich, sondern auch textlich bearbeiten.

Datenverwaltung für Wissenschaft und Forschung

Ein weiteres wichtiges Einsatzgebiet ist die Krebsforschung. Um dieses Feld nutzen zu können, bedarf es aber vieler Daten, an denen die Netze lernen können. Der Aufbau von solchen Bilddatenbanken ist daher unersetzlich und wird im Rahmen von Public-Private-Partnerships und Data-Sharing-Projekten vorangetrieben. Aus diesem Grund unterhalten Anbieter von KI-Algorithmen mit den besten Krankenhäusern und Niedergelassenen Partnerschaften und verfügen so durch Rechenzentren und Datenbanken über mehrere Millionen medizinischer Daten.

Dadurch wird eine leistungsfähige Infrastruktur für die Forschung und Entwicklung aufgebaut, die durch einen transparenten Prozess zukünftigen Technologien öffentliche Akzeptanz zusichern kann.Allgemein existieren inzwischen viele Patente oder Anträge im Bereich maschinelles Lernen und speziell auch für „Deep Learning“. Diese können verwendet werden, um Software-Lösungen zu entwickeln, die den behandelnden Arzt bei der Befundung unterstützen können.

Präzisere und individuellere Diagnostik und Therapie wird gefördert

Es gibt beispielweise Applikationen, bei denen man mithilfe von 3D-Simulierung Wirbelsäulen und Rippen selbstständig nummerieren und anatomische Strukturen automatisch detektieren kann. Diese KI-Verfahren helfen, den Rippenkorb virtuell zu entfalten und eine 3D-Simulierung der Herzklappen-Anatomie und des Blutflusses zu generieren. Eine weitere Möglichkeit kann durch das Übereinanderlegen der Scans von verschiedenen Untersuchungszeitpunkten oder Bildmodalitäten geschaffen werden, um diese besser vergleichen zu können.

Dadurch kann eine präzisere und individuellere Diagnostik und Therapie gefördert werden, die auf einer verbesserten Beurteilung bei der Befundung fußt. Aber nicht nur Unternehmen sind an der Entwicklung solcher Applikationen interessiert, sondern verstärkt auch akademische Forschungsgruppen im Rahmen von Open-Source-Tools, um die Entwicklung und klinische Implementierung voranzutreiben.

Bedeutung von KI steigt

Durch die zu erwartende Verschärfung des Kostendrucks in der Medizin und einem wachsenden Bedarf an präziser Diagnostik werden KI-Algorithmen in Zukunft immer wichtiger. Dabei agiert KI als Assistent, der den Arzt auf pathologische Veränderungen aufmerksam machen kann (computerassistierte Diagnose) oder Vorschlags- und Differenzialdiagnose liefert (computerassistierte Diagnose). Auch kann dadurch die Leistungsabrechnung in der Radiologie sachgerecht optimiert werden.

Schlussendlich eröffnen KI-basierte Ansätze die Chance, Risikopatienten besser zu identifizieren, aber auch unnötige Therapien zu vermeiden. Der Gesetzgeber und die Akteure im Gesundheitswesen sind aufgerufen, sich JETZT mit den geeigneten Zulassungs- und Vergütungssystemen zu beschäftigen. Nur wenn der regulatorische Rahmen für eine sorgsame Nutzung von KI-Technologien gegeben ist, werden Patienten bestmöglich profitieren und Ärzte, Kliniken und Krankenversicherungen den notwendigen weiteren Umbau des Gesundheitssystems betreiben können.

Die Integrierte Versorgung bietet bereits heute beste Optionen für die Vorbereitung dieser neuen Denkmodelle. Es muss deshalb das Ziel aller Akteure sein, Medizin, Technologie und die Frage nach Versorgungsformen so in Einklang zu bringen, dass unser Land hier nicht vom internationalen Versorgungs-„Normal Null“ abgehängt wird.

DGIV e.V.

Die Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen e.V. (DGIV) ist ein deutschlandweit agierender Verein mit der Zielsetzung, die Integrierte Versorgung in der medizi-nischen, pflegerischen und sozialen Betreuung als Regelfall durchzusetzen. Die DGIV wurde am 26. September 2003 in Berlin gegründet. Ziel der Gründungsmitglieder war es, die Integrierte Versorgung als alternative Versorgungsform zur damaligen Regelversorgung zu entwickeln und letztendlich durchzusetzen.