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ReformprojektRegionale staatliche Interessen grätschen dazwischen

Auf Vorschlag der Länder richtete die Bundesregierung ihre Gesetzesplanungen auf dem Gebiet der sektorenübergreifenden Versorgung über Jahre hinweg auf Vorschläge einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe aus. Jetzt scheinen regionale staatliche Interessen das groß angelegte Reformprojekt zu behindern. 

In Deutschland gilt der Grundsatz „ambulant vor stationär“.
Peera/stock.adobe.com
Symbolfoto

Mit Beschluss vom 21. Juni 2017 bat die Gesundheitsministerkonferenz der Länder das Bundesministerium für Gesundheit (BMG), eine Bund-Länder-Reformkommission „sektorenübergreifende Versorgung“ einzurichten. Bis dahin war das BMG deutliche Reformschritte im Schnittstellenbereich von ambulant und stationär schuldig geblieben. Im Koalitionsvertrag vom 12. März 2018 nahmen dann CDU, CSU und SPD den Ländervorschlag auf (siehe Kasten).

Wichtiges Vorhaben

Es war richtig, die Zusammenarbeit und Vernetzung im Gesundheitswesen ausbauen und verstärken zu wollen. Zu oft war es in der Vergangenheit bei den eher zaghaften Versuchen zur Überwindung der sektoralen Barrieren geblieben: Das Belegarztwesen verkümmerte, das Honorararztwesen erwies sich als von der Bundesregierung unzureichend konzipiert, die ambulante spezialfachärztliche Versorgung wurde nicht in der Versorgungsrelevanz weiter ausgebaut, die für Krankenhäuser eröffneten Optionen zur Übernahme ambulanter Versorgungsaufträge in unterversorgten Gebieten wurden nicht wahrgenommen.

Die Umsetzung des Versorgungsprinzips „Integrierte Versorgung“ ist das wichtigste Instrument, um mithilfe sektorenübergreifender Versorgungslösungen die sektorale Trennung im deutschen Gesundheitswesen überwinden zu können. Hier liegt eindeutig das größte Effizienz- und Effektivitätspotenzial in der Kooperation der ehemals angestammten sektoralen Leistungserbringer, vor allem die Kooperation von Krankenhäusern und Vertragsärzten. Dabei muss auch das Denken überwunden werden, dass „ambulant“ immer „Vertragsarzt“ bedeutet und „stationär“ immer „Krankenhaus“. Gerade hier darf die Zusammenarbeit und Vernetzung - auch vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Rahmenbedingungen für die Selbstverwaltung und die gesundheitliche Daseinsvorsorge in den Ländern - nicht Halt machen.

Es war richtig, nachhaltige Schritte zur Ausrichtung der Behandlungsverläufe am medizinisch-pflegerischen Bedarf der Patientinnen und Patienten einleiten zu wollen. Und es war richtig, dazu die sektorenübergreifende Versorgung des stationären und ambulanten Systems weiterzuentwickeln. Die längst überfälligen Reformen lassen sich nur in einer Komplexität durchführen, deren Mindestinhalt die hier angesprochenen Einzelthemen der Aufgabenstellung umfasst. Auch das Vorhaben vermochte zu überzeugen, zeigten damit doch die Koalitionspartner, dass sie gewillt waren, endlich auch die anspruchsvollen Themen systematisch bearbeiten zu lassen, deren Weiterentwicklung für eine nachhaltige Reform auf dem Gebiet der sektorenübergreifenden Versorgung unverzichtbar ist.

Umsetzung bisher enttäuschend

Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe braucht immer Zeit - das ist allen Beteilitgen bekannt. Aber gerade weil das Thema komplex und anspruchsvoll ist, mussten von vornherein auch sehr hohe Ansprüche an die Intensität, Qualität und Quantität der Arbeit der Arbeitsgruppe gestellt werden. Die bisher von der Arbeitsgruppe – zuletzt mit dem sogenannten Fortschrittsbericht vom Januar 2020 – veröffentlichten Arbeitsergebnisse vermitteln jedoch nicht den Eindruck, dass die Kommission diesen Ansprüchen gerecht werden kann. Dazu ist bereits zu viel Zeit verstrichen und die Ergebnisse der Arbeitsgruppenarbeit sind zu mangelhaft.

Insbesondere fällt bereits auf den ersten Blick auf, dass die Arbeitsgruppe nicht ihrer Aufgabenstellung aus dem Koalitionsvertrag gerecht wird. Viele Teilaufgaben werden von der Arbeitsgruppe nur insoweit angesprochen, dass sie, wie beispielsweise die Ausgestaltungen des „gemeinsamen fachärztlichen Versorgungsbereiches“, an die gemeinsame Selbstverwaltung delegiert werden sollen. Der Entwurf des Eckpunktepapieres aus dem Jahre 2019 formuliert dazu: „KBV, GKV-SV und DKG werden verpflichtet, für den durch Rechtsverordnung festzulegenden gemeinsamen fachärztlichen Versorgungsbereich einheitliche Vorgaben zur Qualität, Struktur, Dokumentation, Mindestmengen, Vergütung und zur informationstechnischen Ausstattung zu vereinbaren.“

Die hier von der Arbeitsgruppe zur Beantwortung durch die Selbstverwaltung vorgesehenen Punkte sind im Großen und Ganzen auch Gegenstand der vom Koalitionsvertrag formulierten Aufgabenstellung für diese Arbeitsgruppe. Die Verantwortung soll jetzt also auf die Selbstverwaltung, die bekanntlich bei der Zusammensetzung der Arbeitsgruppe außen vorgelassen wurde, abgeschoben werden.

Laut MDK-Reformgesetz sind die Partner der Selbstverwaltung verpflichtet, bis zum 31. März 2020 ein gemeinsames Gutachten in Auftrag zu geben, in dem der Stand der medizinischen Erkenntnisse zu ambulant durchführbaren Operationen, stationsersetzenden Eingriffen und stationsersetzenden Behandlungen untersucht werden. Dabei sollen diese konkret benannt und in Verbindung damit verschiedene Maßnahmen zur Differenzierung der Fälle nach dem Schweregrad analysiert werden.

Nicht erst seit 2017 ist klar, dass die Weiterentwicklung der sektorenübergreifenden Versorgung ganz eng mit dem seit Langem im SGB V verankerten Versorgungsprinzip „ambulant vor stationär“ verbunden ist. Deutschland hat schon seit vielen Jahren auf diesem Gebiet großen Nachholbedarf. Indem nunmehr die Vertreter des Staates erst während ihrer Arbeitsgruppentätigkeit realisieren, dass dieses Thema nicht ohne eine unabhängige Begutachtung der tatsächlichen Versorgungsverhältnisse und objektive Bewertung der hier schlummernden medizinischen Machbarkeitspotenziale bewältigt werden kann, stellen sie sich selbst ein Armutszeugnis aus.

Inhalte werfen Fragen auf

Es kommt nicht von ungefähr, dass sich die Arbeitsgruppe im Ergebnis einer stärkeren Umsetzung des Prinzips „ambulant vor stationär“ auch mit Fragen der Ausweitung ambulanter Versorgungsaufträge und der Umstrukturierung von Krankenhäusern beschäftigen muss. Für Verwunderung sorgt aber von Anfang an, dass die Arbeitsgruppe sich kaum der Weiterentwicklung bestehender und Gestaltung neuer integrierender Versorgungsstrukturen widmet. Der fast schon verschämt anmutende Hinweis im Fortschrittsbericht, man beabsichtige sich (zumindest) der Prüfung der Vergütung im Belegarztwesen noch zu widmen, vermag diesen Eindruck nicht zu beseitigen. Nicht nur in Zeiten der Auseinandersetzungen mit dem Corona-Virus wird deutlich, dass wir dringend mehr integrierte Versorgungslösungen brauchen.

Der Umstand, dass die Arbeitsgruppe bisher keine Vorschläge zur Weiterentwicklung der stationären Leistungserbringung durch Vertragsärzte und – damit verbunden – der Rahmenbedingungen für Praxiskliniken sowie Beleg- und Honorarärzte vorgelegt hat, lässt Raum für Spekulationen. Hält man sich vor Augen, dass die Rahmenbedingungen und Strukturen für Krankenhäuser im Mittelpunkt der Arbeitsgruppenarbeit stehen, stellt sich automatisch die Frage, warum der Arbeitsgruppe die Belange der Krankenhäuser im gesundheitspolitischen Verständnis einer nachhaltigen Weiterentwicklung der sektorenübergreifenden Versorgung im deutschen Gesundheitswesen näherzustehen scheinen als die Belange der niedergelassenen Ärzte. Schließlich ignoriert die Arbeitsgruppe hier anderslautende Erkenntnisse der Versorgungsforschung.

Man darf gespannt sein, welche Erkenntnisse die Bundesregierung nunmehr in ihren für Ende des ersten Quartales 2020 angekündigten Gesetzentwurf auf dem Gebiet der sektorenübergreifenden Versorgung einfließen lässt.

DGIV e.V.

Die Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen e.V. (DGIV) ist ein deutschlandweit agierender Verein mit der Zielsetzung, die Integrierte Versorgung in der medizi-nischen, pflegerischen und sozialen Betreuung als Regelfall durchzusetzen. Die DGIV wurde am 26. September 2003 in Berlin gegründet. Ziel der Gründungsmitglieder war es, die Integrierte Versorgung als alternative Versorgungsform zur damaligen Regelversorgung zu entwickeln und letztendlich durchzusetzen.