
Zunächst die gute Nachricht: Die Bundesregierung hat bekannt gegeben, Anfang dieses Jahres einen Gesetzesentwurf im Bereich der sektorenübergreifenden Versorgung zur öffentlichen Diskussion vorzulegen. Damit entspricht sie Vereinbarungen des Koalitionsvertrages. Fragwürdig sind allerdings die bisherigen spärlichen Angaben zum Inhalt des Gesetzesentwurfes. Nach Angaben des Ärzteblattes vom 11. Dezember 2019 bezog sich der Abteilungsleiter des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) Joachim Becker auf einer Veranstaltung des Katholischen Krankenhausverbandes (kkvd) in diesem Zusammenhang auf „Vorarbeiten der Bund-Länder-Arbeitsgruppe sektorenübergreifende Versorgung“ und dabei auf die Fragen, welche ambulanten Aufgaben die Krankenhäuser zukünftig in strukturschwachen Regionen übernehmen und welche Behandlungen definiert würden, die sowohl von Vertragsärzten als auch von Krankenhäusern erbracht werden könnten. Diese Signale lassen vermuten, dass sich die angekündigte Gesetzesinitiative aus dem BMG tatsächlich nur auf die Ausarbeitungen des Eckpunktepapier-Entwurfes der Bund-Länder-Arbeitsgruppe vom Mai 2019 stützen will. Mehr als dieses Arbeitspapier der Arbeitsgruppe ist bisher nicht nach außen gedrungen.
Die DGIV hat in mehreren Veröffentlichungen zu diesem vermeintlichen „Testballon“ kritisch Stellung bezogen. Insbesondere die Vernachlässigung integrierender, also sektorenübergreifend kooperierender Versorgungslösungen wie das Beleg- und Honorararztwesen und andere Kooperationsformen zwischen Krankenhäusern und vertragsärztlichen Leistungserbringern wurde dabei genauso deutlich angesprochen wie die einseitige Ausrichtung der sektorenübergreifenden Versorgung auf die fragwürdige Ausweitung ambulanter Versorgungsaufträge der Krankenhäuser. Vielen an der deutschen Gesundheitspolitik Interessierten ist noch in Erinnerung, wie integrierte Versorgungslösungen von staatlicher Seite als das Ziel der Weiterentwicklung der gesundheitlichen Versorgungsstrukturen beschrieben wurden. Mithilfe der Selektivversorgung sollten alternative Modelle zur bestehenden Regelversorgung herausgebildet und in einem „Wettbewerb der Ideen“ Eingang in regelhafte Strukturen finden.
Und wo stehen wir jetzt? Mehr Konfrontation als Kooperation, integrierende Versorgungslösungen werden vom Gesetzgeber vernachlässigt und wachsende gegenseitige Vorwürfe zwischen Staat und Selbstverwaltung können nicht mehr in Abrede gestellt werden. Zankapfel ist in der Selektivversorgung insbesondere die Frage, ob nun Kassen und Leistungserbringer über ausreichend freie Rahmenbedingungen im Vertragswettbewerb verfügen. Der Staat sagt ja, die Selbstverwaltung nein. Im Ergebnis stagniert die integrierende Selektivversorgung seit Jahren und entsprechend harsch fallen zur Begründung dessen die gegenseitigen Schuldzuweisungen aus. Mit der Selbstverpflichtung der Regierungsparteien zur Weiterentwicklung der sektorenübergreifenden Versorgung und Einrichtung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe waren zunächst wichtige Weichenstellungen zur Umsetzung des Prinzips der integrierten Versorgung auch für die Regelversorgung vorgenommen worden, nachdem augenscheinlich Versuche zur Implementierung sektorenübergreifender Versorgungslösungen mithilfe des Innovationsfonds nicht wie erhofft fruchteten.
Jetzt scheinen Bund und Länder im Rahmen der Arbeitsgruppe und unter Ausschluss der Öffentlichkeit einen eigenen Königsweg zur Forcierung einer sektorenübergreifenden Versorgung ausgemacht zu haben: die Substitution stationärer durch ambulante Versorgungsleistungen unter gleichzeitiger Ausweitung ambulanter Versorgungsaufträge für Krankenhäuser und vertragsärztliche Leistungserbringer. Für sich gesehen ist das nicht falsch; die Umsetzung des Prinzips ambulant vor stationär wurde in der Vergangenheit vernachlässigt und Abbau sektoraler Schranken bedeutet auch, den Krankenhäusern mehr Zugang zum ambulanten Sektor zu verschaffen.
Das ist aber nur die halbe Miete. Abbau sektoraler Schranken hin zur Überwindung der sektoralen Versorgung bedeutet selbstverständlich auch, den Zugang vertragsärztlicher Leistungserbringer in den stationären Sektor weiter auszubauen und vor allem anderen die Kooperationsmöglichkeiten von Krankenhäusern und Vertragsärzten zu erweitern. Darauf haben die DGIV und andere Verbände – zuletzt der Spitzenverband Fachärzte – bereits mehrfach und eindringlich hingewiesen. Reaktionen von staatlicher Seite sind darauf bisher ausgeblieben. Deshalb verstärkt sich der Eindruck, dass sich die Auffassung bei Bund und Ländern immer weiter verfestigt, erste Wahl bei der Überwindung der Sektorengrenzen sei nicht die intersektorale Kooperation oder die beiderseitige Einräumung neuer Versorgungsoptionen im jeweils anderem Sektor, sondern die Grenzüberschreitung nur in eine Richtung durch weitere Öffnung der ambulanten Leistungserbringung für Krankenhäuser.
„Der Abbau sektoraler Schranken bedeutet auch, den Zugang vertragsärztlicher Leistungserbringer in den stationären Sektor weiter auszubauen und die Kooperationsmöglichkeiten von Krankenhäusern und Vertragsärzten zu erweitern. Das beinhaltet nicht nur ungelöste Machbarkeitsfragen, sondern steht vor allem deutlich im Widerspruch zu den Erkenntnissen der Versorgungsforschung und nährt berechtigte Zweifel daran, dass das der richtige Weg zur Steigerung von Effizienz und Effektivität der gesundheitlichen Versorgung im Schnittstellenbereich von ambulant und stationär sein soll. Dass in der gemeinsamen Selbstverwaltung durchaus sektorale Beharrungskräfte bestehen, ist bekannt. Unter anderem damit hat man sich auch erklärt, dass die Bund-Länder-Arbeitsgruppe nur durch staatliche Vertreter besetzt wurde.
Dass man aber bisher keinerlei Zeichen für eine Weiterentwicklung bestehender und eine Ausprägung neuer integrierender Versorgungsstrukturen der Regelversorgung sowie den Ausbau des Zugangs zum stationären Sektor für vertragsärztliche Praxiskliniken und Kompetenzzentren in der bevorstehenden Reform gesetzt hat, ist kaum nachvollziehbar. Auch der auf den ersten Blick richtige Gedanke zur Einrichtung eines gemeinsamen fachärztlichen Versorgungsbereiches ist nur dann sinnvoll, wenn er ambulante und stationäre Versorgungsleistungen umfasst. Bei allem Verständnis für den Umstand, dass sich nach letzten statistischen Veröffentlichungen (für 2017) 28,8 Prozent aller Krankenhäuser (darunter die weit überwiegende Mehrheit der deutschen Universitätskliniken) und 48 Prozent aller Krankenhausbetten in öffentlicher Trägerschaft befinden, wird in der öffentlichen Diskussion zur bevorstehenden Gesundheitsreform im Bereich der sektorenübergreifenden Versorgung auch die Frage der Begründetheit des nun anscheinend eingeschlagenen Königswegs zu klären sein.
