
Dass die Notaufnahmen in ganz Deutschland dringend eine Entlastung brauchen, ist seit Jahren klar. Mit rund 10,5 Millionen Patientinnen und Patienten jährlich übernehmen zentrale Notaufnahmen (ZNA) in Deutschland den größeren Anteil der behandelten 19 Millionen Akut- und Notfallpatienten. Zusammen mit 8,7 Millionen nach Diagnostik und Behandlung stationär verbleibenden Patienten liegt die Hauptlast der Akut- und Notfallversorgung in Deutschland in den ZNA. Das verdeutlicht eine aktuelle Studie der Sektion Klinische Akut- und Notfallmedizin der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI).
Die Folgen dieses Andrangs sind immer längere Wartezeiten: Vier bis sechs Stunden seien derzeit die Regel, berichtet etwa die Kinderklinik St. Louise in Paderborn. Allein im Dezember des vergangenen Jahres habe das Berliner Notaufnahmesystem laut Daniel Labes von der „Aktion Notaufnahmen retten“ kurz vor dem Zusammenbruch gestanden. Viele Notaufnahmen hätten sich wegen Überlastung abgemeldet, an manchen Tagen sei ein Viertel der Notfallstrukturen wegen Überlastung geschlossen worden.
Gesetzgeber will Situation entzerren
„Aufgrund einer stark zunehmenden Auffangfunktion für andere Versorgungsstrukturen leidet die Notfall- und Akutmedizin besonders unter den Defiziten des übrigen Gesundheitswesens, wie etwa der unzureichenden Digitalisierung, dem demographischen Wandel oder dem Personalmangel“, schreiben die Experten der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung in ihrer jüngsten Stellungnahme. Mit Hilfe einer neuen Richtlinie zur standardisierten und qualifizierten Ersteinschätzung im Zuge der geplanten Reform der Notfallversorgung will der Gesetzgeber diese Situation entzerren – laut Gesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD) werden sich die darin angedachten Strukturveränderungen bereits im Jahr 2025 positiv auf die reale Versorgungspraxis auswirken.
Im Umkehrschluss heißt das: Bis dahin müssen Kliniken mit der Situation irgendwie klarkommen. „Für Patienten mit Verdacht auf Herzinfarkt oder Schlaganfall kann das lebensbedrohlich sein, vor allem dann, wenn aufgrund der langen Wartezeiten zu viel Zeit bis zur Diagnosestellung und Einleitung der Behandlung besteht“, postuliert Dr. med. Michael von Wagner, Facharzt für Innere Medizin, Chief Medical Informatics Officer (CMIO) und Ärztlicher Leiter der Stabsstelle Medizinische Informationssysteme und Digitalisierung des Universitätsklinikums Frankfurt (UKF).
Wir haben einfach keine andere Möglichkeit, als Prozesse zu optimieren und unsere Räumlichkeiten so effizient wie nur möglich zu nutzen.
Auch die ZNA des UKF verbucht über die vergangenen Jahre hinweg einen anhaltenden Anstieg der Behandlungszahlen. Statt auf die Reformwirkungen zu warten, hat man sich hier allerdings dazu entschieden, selbst tätig zu werden. Die ZNA des Frankfurter Uniklinikums ist auf möglichst kurze Wege ausgelegt und befindet sich direkt neben der Radiologie. Ihre Räumlichkeiten sind durch die Gebäudestruktur aber derart begrenzt, dass eine Vergrößerung nicht möglich ist – Notfallpatienten, die über Nacht bleiben müssen, werden daher in einer eigenen Station im fünften Stock des Hauses untergebracht. Durch den Bezug eines neuen Bauabschnittes Anfang des kommenden Jahres ist zudem absehbar, dass damit noch mehr Patienten aus peripheren Häusern – etwa der Neurologie – in die Notaufnahme kommen werden. „Wir haben einfach keine andere Möglichkeit, als Prozesse zu optimieren und unsere Räumlichkeiten so effizient wie nur möglich zu nutzen. Da geht es uns nicht anders als vielen anderen Innenstadtkrankenhäusern“, berichtet Michael von Wagner.
Tracking- und KIS-Daten zusammengeführt
Dazu nutzt man seit dem Jahr 2021 ein System, das in der Lage ist, den Patientenstrom der ZNA in Echtzeit zu visualisieren und die so gewonnen Daten mit jenen der elektronischen Patientenakte und dem KIS-System zu fusionieren. Alle Patienten erhalten bereits am Anmeldeschalter ein Armband – hergestellt von der US- amerikanischen Firma Centrak – das in der Lage ist, deren jeweiligen Standort per Infrarot zu erfassen. Verlassen Patienten die ZNA, legen sie es in eine Box, die diesen Zeitpunkt registriert und das Armband ausstellt.
Die gewonnen Trackingdaten werden anschließend mit Hilfe der Softwarelösung „Performance Flow“ von Philips verarbeitet und mit den Daten aus dem KIS zu einem Gesamtprozess zusammengeführt. „Damit können wir alle Patienten innerhalb der Notaufnahme bettengenau lokalisieren. Zudem erfasst das System, wenn sich Patienten gerade in der Radiologie befinden“, berichtet von Wagner.

Im Prinzip koppelt jene Software also bestimmte Meilensteine innerhalb des Versorgungsprozesses, die es sich aus dem KIS-System zieht, mit den physischen Anwesenheitszeiten, die mit Hilfe des Infrarotarmbandes erfasst werden. „So bekommen wir verschiedenen Zeitstempel und können die zu „Dauern“ innerhalb des Prozesses verarbeiten“, ergänzt Michael von Wagner.
Ohne das Infrarot-Armband ließen sich viele Prozesse dagegen nicht korrekt abbilden: „Wenn sie etwa einen Entlasszeitpunkt nur aus der Dokumentation des KIS-System erheben wollen, erfahren sie oft nur, wann die Mitarbeiter ihren Schichtwechsel haben, aber nicht wann genau der Patient physisch das Haus verlassen hat. Bei der ZNA kommt noch hinzu, dass gerade ambulante Patienten garkeinen Entlasszeitpunkt haben, sondern sie gehen einfach. Natürlich könnte man hier den Ausdruckzeitpunkt des Entlassbriefes oder eines Rezeptes nutzen, aber ob der Patient dann auch physisch das Haus verlassen hat, ist damit nicht gesagt. Gerade das ist bei einer räumlichen Struktur wie unserer aber entscheidend, denn erst dann ist eine Patientenliege wieder für neue Patienten verfügbar.“
Patienten schneller versorgen
Die derart gekoppelten Informationen werden den Mitarbeitern der ZNA-Leistelle visuell aufbereitet und in Echtzeit auf einem Dashboard angezeigt. Der Vorteil ist, dass sich die Abläufe des Patientenstroms so viel besser steuern, analysieren und optimieren lassen. Zu sehen ist dort etwa, welcher Patient sich gerade wo befindet oder wie lange er dort schon wartet. Damit lassen sich also auch jene Patienten mit schwerwiegenden Ersteinschätzungen – etwa mit Verdacht auf Herzinfarkt – vorziehen, um ihre Behandlung schnell einzuleiten.
„Das System dient uns vor allem dazu, unsere Prozesse zu optimieren – wenn man die Verweildauer in einer Notaufnahme senkt, sind die Patienten schneller versorgt. Je früher ich eine Medikation gebe, eine Diagnose stelle oder ihnen sagen kann ober sie stationär bleiben müssen, je früher sie in einer so wuseligen ZNA auf eine Station kommen, desto besser sind Patienten versorgt – und gleichzeitig steht die Ressource ZNA für einen anderen Patienten wieder zur Verfügung“, postuliert von Wagner.
Das System dient uns vor allem dazu, unsere Prozesse zu optimieren.
Zudem lässt sich darüber auch prognostizieren, wie der Andrang in der ZNA die übrigen Klinikabläufe beeinflusst. Zwar hätten erfahrene ZNA-Mitarbeiter anhand des morgendlichen Patientenstromes bereits ein subjektives Bauchgefühl dazu, inwiefern sich die angespannte Lage auf die stationären Aufnahmen elektiver Patienten auswirke. „Anhand der Prozesskennzahlen, die das System liefert, lässt sich aber etwa montagmorgens bereits objektivieren, ob man die für Mittwoch eigentlich eingeplanten elektiven Patienten wird behandeln können – oder schon anfangen sollte, hier etwas Puffereinzubauen“, führt von Wagner aus. Das lindert den Personaldruck und sorgt für bessere Planbarkeit.
Ausweitung im gesamten Klinikum geplant
Angesichts dieser Vorteile wundert es nicht, dass auch andere Kliniken bereits reges Interesse an dem System gezeigt haben. Am UKF hat man sogar vor, das System zur Echtzeit-Visualisierung in Zukunft auf das gesamte Klinikum auszuweiten und etwa zu nutzen, um die jeweiligen Nadelöhre und Staupunkte der stationären Patientenströme zu messen und auflösen – angefangen von der Erstaufnahme bis zur endgültigen Entlassung. „Der Patientenanteil einer ZNA ist so groß, dass alle Veränderungen in der Notaufnahme die Gesamtabläufe im Klinikum beeinflussen. Das Ziel unseres nächsten Entwicklungsschrittes ist daher, mit Hilfe der Visualisierung die Patientenströme über den gesamten Prozess hinweg abbilden zu können.“
Ein angenehmer Nebeneffekt davon wäre laut des Facharztes für Innere Medizin, dann auch feststellen zu können, wo sich ein Patient befindet, wenn er nicht auf Station anzutreffen ist. „Ein weiteres perspektivisches Ziel ist, diesen Prozess mit weiteren klinischen Daten anzureichern, etwa um eine zusätzliche Alarmierungsebene zu haben, wenn sich der Gesundheitszustand eines Patienten verschlechtern sollte.“
Mitarbeiter schonen und Patientenversorgung unterstützen
Die Steuerung ambulanter Patienten durch eine den ZNAs vorgelagerte standardisierte und qualifizierte Ersteinschätzung, die mit der geplanten Reform der Notfallversorgung erfolgen soll, können solche Echtzeittrackingsysteme zwar nicht leisten. Da die ZNAs im Zuge der zunehmenden Ambulantisierung aber ohnehin eine immer zentralere Rolle im Behandlungsprozess spielen werden, gelte es, diese wertvolle Ressource möglichst effizient zu nutzen. „Die Prozesse zu optimieren, die eigenen Mitarbeiter zu schonen und die Patientenversorgung dabei qualitativ zu unterstützen, das ist das Ziel dieser Lösung“, so von Wagner.
Vorbild sei hier die Industrie, die mit Hilfe solcher Datenerhebungen ihre Prozesse optimieren und sogar schon im Vorhinein simulieren kann. Nicht zuletzt gebe man so den Mitarbeitern der ZNA das Gefühl, als Arbeitgeber moderne Methoden zu nutzen, um ihre Arbeitsbelastung zu senken. Angesichts des steigenden Fachkräftemangels könnte das durchaus ein Wettbewerbsvorteil sein.





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