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Clinical Grade WearablesKleidung als Vitalmessgerät

Bei der Kontrolle bestimmter Vitalfunktionen ist eine möglichst engmaschige Überwachung unerlässlich. Daher entwickeln verschiedene Forschergruppen derzeit Kleidungsstücke, die in der Lage sind, Lungengeräusche oder Herzrhythmusstörungen zu erfassen. Die Ergebnisse sind vielversprechend.

Hightech-Weste überwacht die Lungenfunktionen
Fraunhofer_IKTS
Die visuelle Darstellung zeigt die unterschiedlichen Bereiche der Lunge und ihre Belüftungssituation. Rot steht für schlechter belüftete Bereiche.
Hightech-Weste überwacht die Lungenfunktionen
Fraunhofer IKTS
In der Vorder- und Rückseite der Textilweste sind Akustiksensoren integriert, die den Thorax abhören.

Die eigene Gesundheit und Fitness mit Hilfe des Smartphones oder Wearables selbst zu überwachen wird immer beliebter. Gesundheits-Apps sind für viele Ansporn sich mehr zu bewegen, unterstützen bei der regelmäßigen Einnahme von Medikamenten und liefern nützliche Informationen, etwa zu Ernährungsthemen. Bereits im Jahr 2017 verwendete fast jeder zweite Smartphone-Nutzer Gesundheits-Apps, weltweit hatte diese Sparte laut des Statistischen Bundesamtes ein Marktvolumen von rund 2,4 Milliarden US-Dollar. Bis zum Jahr 2025 könnte das Marktvolumen sogar auf rund 11,2 Milliarden US-Dollar anwachsen. Auch bei den Wearables, also Minicomputer wie Smartwatches und Fitness-Tracker, hat sich seit 2014 der weltweite Absatz mehr als verzehnfacht, bereits im Jahr 2020 betrug er rund 445 Millionen abgesetzte Einheiten.

Smarte Textilien

Die große Mehrheit jener Smart Devices, die mittlerweile zum täglichen Begleiter vieler Menschen geworden sind, sind eher nicht für eine medizinische Anwendung geeignet. Deren ausgeklügelte Elektronik bieten allerdings für die medizinische Zwecke immer mehr Möglichkeiten. Derzeit sind verschiedenen Forschungsgruppen dabei, diese Technik in jenen Gegenstände einzusetzen, die noch näher an Patienten sind als Smartphones und Fitnessarmbänder: die Kleidung. Diese smarten Textilien gehören zur Gruppe der sogenannten Clinical Grade Wearables und bieten einen entscheidenden Vorteil: da Patienten sie ohnehin tragen, können sie nicht vergessen werden und bieten daher die Möglichkeit einer engmaschigeren und ständigen Kontrolle des jeweiligen Gesundheitszustandes.

Das Fraunhofer-Clusterprojekt „M³ Infekt“ ist derzeit dabei, mehrere solcher smarten Textilien zu entwickeln. Unter der Federführung des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen IIS in Dresden sind neben zehn Fraunhofer-Instituten auch das Klinikum Magdeburg, die Charité – Universitätsmedizin Berlin sowie die Universitätskliniken Erlangen und Dresden als medizinische Partner eingebunden.

Eines dieser Projekte ist „Pneumo.Vest“, für das Forschende am Fraunhofer-Institut für Keramische Technologien und Systeme IKTS eine Technologie entwickelt haben, bei der Akustiksensoren in einer Textilweste die Lungengeräusche erfassen können. Die intelligente Weste soll bei Patienten mit schweren Atemwegs- oder Lungenerkrankungen zum Einsatz kommen und stellt laut den Entwicklern zukünftig eine leistungsfähige Ergänzung zum klassischen Stethoskop dar, mit dem Pneumologen seit jeher Herztöne und Lungengeräusche ihrer Patienten abhören.

Die Technik dahinter basiert auf Piezokeramik: „Wenn sich die Piezokeramik verformt, wird eine Spannung erzeugt. Und diese Spannungsänderung ist messbar. In der Weste sind im Prinzip also viele kleine Stethoskope verbaut, die rund um den Thorax des Patienten angeordnet sind. Damit haben wir die Möglichkeit, an vielen unterschiedlichen Positionen des Brustkorbs Atemgeräusche und Lungengeräusche aufzunehmen“, so Ralf Schallert, Gruppenleiter für Charakterisierungsverfahren am IKTS. Die Weste besteht aus Baumwolle, da sie waschbar, atmungsaktiv und gut tragbar sein muss. Die darin eingearbeitete Sensorelektronik lässt sich abnehmen und desinfizieren, sodass die Hygieneanforderungen gewährleistet sind.

Visualisierung aller Areale des Thorax

Obwohl sich deren Elektronik auch per Batterie betreiben lässt, ist die „Pneumo. Vest“ in ihrer ersten Ausbaustufe zunächst für bettlägerige Beatmungspatienten konzipiert, deren Sensorik wird dabei per Kabel mit Strom versorgt und an einem PC ausgewertet und dargestellt. Im Gegensatz zum klassischen Stethoskop macht die Weste die Geräuschkulisse der Lunge aber nicht nur hörbar, sondern ist mit einer eigens entwickelten Künstlichen Intelligenz versehen. Sie bietet den behandelnden Pneumologen neben einer Vorauswahl jener Geräusche, die es näher zu diagnostizieren gilt, auch eine Visualisierung aller Areale des Thorax. „Die Sensorik registriert also rund um den Thorax jedes noch so leise Geräusch, das die Lunge produziert. Die Software nimmt diese Signale auf und gibt sie elektrisch verstärkt aus. Zusätzlich erscheint eine visuelle Darstellung der Messpunkte der Lunge auf einem Display. Da die Software die Position jedes einzelnen Sensors kennt, platziert sie dessen Daten gleich an der entsprechenden Stelle. So entsteht ein detailreiches akustisches wie optisches Szenario der Belüftungssituation aller Lungenbereiche“, erläutert Ralf Schallert.

Kontinuierliche Überwachung der Lungenfunktion

Das bietet Pneumologen eine genauere und punktuellere Diagnose der Lunge. „Die Pneumo.Vest soll das Stethoskop nicht überflüssig machen und ist auch kein Ersatz für die Fähigkeiten erfahrener Pneumologen. Doch eine Auskultation oder auch ein Lungen-CT stellen immer nur eine Momentaufnahme zum Zeitpunkt der Untersuchung dar. Der Mehrwert unserer Technik besteht darin, dass sie die kontinuierliche Überwachung der Lunge erlaubt, und zwar auch dann, wenn der Patient oder die Patientin nicht an Geräten auf der Intensivstation angeschlossen, sondern auf der Normalstation untergebracht ist“, betont Ralf Schallert. Für die bettlägerigen Patienten, die für eine klassische Stethoskopie in die stabile Seitenlage bewegt werden müssen, ist die Methode der Pneumo Vest ebenfalls angenehmer. Die Ärzteschaft wird entlastet, weil sie ihre Patienten nicht stethoskopieren müssen, sondern die Messergebnisse am Computer diagnostizieren können. Und Kliniken können damit ihre Intensivstationen entlasten, da die Weste auf Normalstationen genauso funktioniert.

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