Die einschlägigen Marktforschungsinstitute überbieten sich jährlich mit ihren Datenlawinenprognosen. In ihren Expertenaussagen vervielfachen sich die Datenmengen in immer kürzeren Zeitintervallen. Vor gut zehn Jahren sprach man noch von "Terabyte". Heute lautet die Zahlendimension "Zettabyte". Diese Einheit mit 21 "Nullen" lässt sich nur mit gewagten Vergleichen wie "…in Tablet-PC-Flächeneinheiten so groß wie…" vorstellen. Dem Megatrend "Big Data" haben sich nicht nur bekannte Unternehmensberatungen angenommen. Anfang 2012 deklarierte das World Economic Forum "Big Data" kurzerhand zum Wirtschaftsgut und stellte damit das weltweite Datenaufkommen auf eine Wertstufe mit Zahlungsmitteln oder Edelmetallen. Neben datenintensiven Web-Anwendungen zum Beispiel im Social Media-Bereich gehöre nach Expertenaussagen vor allem das Gesundheitswesen zu den maßgeblichen Massendatenverursachern. Sich mit diesem Datenwachstum mithilfe von Analysen und Prognosen deskriptiv auseinanderzusetzen, ist eine Möglichkeit. Wie gehen die Akteure im Gesundheitswesen jedoch mit dem Datenaufkommen in ihren Einrichtungen praktisch um? Welche Aspekte gilt es, zu berücksichtigten bei der digitalen Speicherung und Verwaltung dieser Informationsflut? Fünf Aspekte regen an, die IT-graue Maus ‚Digitale Datenarchivierung‘ mit anderen Augen zu sehen.
Digitales Wachstum: Stichwort „Big Data”
Bildformate bestimmen das Klinikdatenwachstum
Im praktischen IT-Alltag existieren in Kliniken vielfältige Informations- und Archiv-Systeme – meistens voneinander isoliert und parallel arbeitend. Dazu gehören neben Krankenhausinformationssystemen (KIS) einschließlich Daten zur Personalverwaltung und Warenwirtschaft, Bilder (Pacs) und digitalisierte Dokumente (DMAS) auch E-Mail-Programme sowie Allerwelts-Büro-Applikationen. Überdies besteht häufig ein einträchtiges Nebeneinander von altbewährten Papierakten und elektronischen Formaten. Wie sieht es jedoch mit den Zauberlehrling-haften Datenvisionen à la "Big Data" in der Krankenhaus-Wirklichkeit aus? Diese Frage provoziert naturgemäß ein uneinheitliches Meinungsbild unter Klinikverantwortlichen, in der IT-Hersteller-Welt und Wissenschaft. Zum einen bestätigen Branchenvertreter eine erhebliche Zunahme des Datenvolumens in Krankenhäusern. Paul Schmücker von der Hochschule Mannheim relativiert hingegen die beschworenen Wachstumsszenarien. Anhand einer empirischen Erhebung seines Instituts in einem benachbarten Universitätsklinikum errechnete er 2007, dass jährlich etwa ein laufender Meter Dokumentation je Krankenhausbett anfällt. Er meint damit "echte Daten", das heißt herkömmliche Akten – Dokumente oder Textdaten – ohne Bilddateien. Ein Haus mit 1.500 Betten produziert nach seiner Faustformel 1,5 Kilometer Akten im Jahr. Was diese Dokumentdaten betrifft, habe sich das Volumen seit 2007 höchstens verdoppelt, schätzt der IT-Professor. Das Datenvolumen der Krankenhäuser wächst in erster Linie im Bereich der Bild- und Filmformate – vor allem durch neue, immer hochauflösendere digitale Bildgebungsverfahren. Dieses Bilddatenaufkommen beträgt derzeit bis zu einem Zehnfachen des jeweils vorhandenen Echtdatenvolumens. "Heute produziert ein 1.500 Betten-Klinikum in Jahresfrist etwa acht Terabyte heterogene Daten.", veranschlagt Schmücker. Entscheidender Wachstumsfaktor für ihn ist der sich ausweitende Digitalisierungstrend in der Diagnostik. Er vermutet: "Eine in Zukunft voll digitalisierte Pathologie-Abteilung erzeugt mehr Daten als die Radiologie heute." Wie sich weitere, neue High-Tech-Verfahren – zum Beispiel Analysen der personalisierten Medizin – auf die Datenvolumina in Kliniken auswirken, bleibt abzuwarten.
Benutzerfreundliche Prozesse bestimmen die Hardware
Dass die Hardware-seitige Gestaltung eines digitalen Archivs vom vorhandenen und künftigen Datenvolumen abhängt, versteht sich von selbst. Eine Kombination aus Platten- und Bandspeichersystemen muss ein hohes Maß an Ausfallsicherheit gewährleisten – bei gleichzeitig langer Lebensdauer der Medien. Bei der Entscheidung für beispielsweise Direct Attached Storage (DAS) oder Infrastrukturkonzepte wie Storage Area Networks (SAN) und Network Attached Storage (NAS) spielen unter anderem die bereits vorhandene IT-Ausstattung und die zu archivierenden Datentypen eine Rolle. Schmücker betrachtet die Hardware-Ausrüstung als Mittel zum Zweck. Für ein durchdachtes, digitales Archiv sei es viel wichtiger, die zugrundeliegenden Prozesse benutzerfreundlich abzubilden. Am Anfang stehe immer ein schlüssiges Archivierungskonzept mit entsprechender Software-Lösung. Die Speicher-Hardware setze diese Vorgaben lediglich um. "Ich kenne Beispiele, die erst die Hardware anschafften und sich dann Gedanken zu den Prozessen machten. Dieses Vorgehen bewährte sich nicht", resümiert er. Hier sei Expertenwissen in den IT-Abteilungen der Kliniken gefragt.
Archivierungskosten realistisch planen
Auf der Hand läge, dass die prophezeite digitale Datenlawine eine Schneise der Verwüstung in schmale IT-Budgets schlägt. Denn jährlich wachsende Datenmengen erfordern ein ständiges Nachrüsten der Datenspeicherkapazitäten in den Kliniken. Nach Meinung von Schmücker sind die Preise für Speicher-Hardware seit ihren Anfängen in den 1980er Jahren erheblich gesunken. Inzwischen zeige sich der Preisdruck auch bei den Lizenzen für Archivierungs-Software. Deshalb können sich heute selbst mittelgroße Krankenhäuser ein professionelles, digitales Archiv-System leisten. Hingegen verursachen Dienstleistungsverträge der Hersteller bis zu 50 Prozent der Archivierungskosten, beobachtet Schmücker. Er kalkuliert die Kosten für die Datenspeicherung – genauso wie das Datenaufkommen – als Funktion der jeweiligen Bettenzahl einer Klinik unter Berücksichtigung der üblichen Skaleneffekte. Abhängig von der IT-Ausgangslage – zum Beispiel zusätzlicher Migrationsbedarf für die Altdatenbestände – veranschlagt er die IT-Archiv-Investitionen für ein 1.000-Betten-Haus zwischen 250.000 und 500.000 Euro. Weitere Positionen wie Raum- und Personalkosten sowie regelmäßige Service- und Wartungskosten kommen hinzu.
Klinikdaten revisions- und rechtssicher langzeitarchivieren
Für Krankenhausdaten gelten aus Revisionssicht Aufbewahrungsfristen von 30 Jahren und länger. Gleichzeitig unterliegen diese sensiblen, personenbezogenen Gesundheitsdaten strengen rechtlichen Regelungen wie dem Bundesdatenschutzgesetz und dem Strafgesetzbuch. Ergänzende Datenschutzvorgaben können in einigen Bundesländern hinzukommen. In einem Klinikbetrieb muss die digitale Archivierung deshalb ungleich anspruchsvolleren Anforderungen genügen als in anderen Branchen. In einem Atemzug mit dem kritischen Thema ‚Revisionssicherheit‘ nennen Fachleute den Begriff der ‚digitalen Signatur‘. Elektronisch erzeugte oder im Nachhinein digitalisierte Dokumente sind vor Gericht nur mit einer elektronischen Unterschrift beweiskräftig. Über den Zeitraum einer Langzeitarchivierung kann die per kryptografischem Algorithmus erzeugte digitale Signatur jedoch ihre Beweiskraft verlieren. Sie "verblasst" aufgrund technologischer Weiterentwicklungen. In den vergangenen Jahren haben sich zahlreiche Arbeitsgruppen mit der Fragestellung der langfristig gültigen, digitalen Signatur beschäftigt. Anfang der 2000er Jahre förderte zum Beispiel das Bundeswirtschaftsministerium das ArchiSig-Konzept, in dessen Kontext Fachleute an Verfahren und Standards für die rechts- und beweissichernde Langzeitdatenarchivierung arbeiteten. Dem Thema der revisionssicheren Langzeitarchivierung von Klinikdaten verschrieben hat sich seit geraumer Zeit das Europäische Branchenkompetenzzentrum für die Gesundheitswirtschaft EWIV (EUBKZGW) in Berlin. Das Netzwerk kooperiert in seiner Beratungstätigkeit mit Industrie-Partnern – darunter Anbieter von Speicher-Software und -Hardware. Dass die Möglichkeiten der digitalen Archivierung allgemein und insbesondere die juristische Tragweite einer revisionssicheren Umsetzung im Klinikalltag viele Entscheider gerade erst entdecken, erlebt Klaus Aulenbacher, Geschäftsführer des EUBKZGW, häufig in seinen Beratungsgesprächen. Auch der "IT-Report Gesundheitswesen – Schwerpunkt IT im Krankenhaus" des Niedersächsischen Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr sowie der Hochschule Osnabrück aus dem Januar 2012 bestätigt den Nachholbedarf in punkto digitale Archive. Von den befragten Häusern hat erst ein knappes Drittel das Thema ‚elektronisches Archiv‘ umgesetzt. Weniger als fünf Prozent haben der Umfrage zufolge die elektronische Signatur eingeführt.
Mit Multimedia-Archiven wertvolle Klinikdaten nutzen
Bislang setzen Kliniken mehrheitlich jeweils getrennte digitale Archiv-Systeme für ihre verschiedenen Informationssysteme ein – zum Beispiel DMAS für digitalisierte Dokumente und Pacs für Bildformate. Sie bestehen technisch aus zwei Komponenten: einer digitalen Ablage für das zu archivierende Datenmaterial und einer dazugehörenden Datenbank als Archiv-Inhaltsverzeichnis. So entstehen Informationssystem-spezifische Datensilos, deren Inhalte sich nicht zusammenführen und damit weiterverarbeiten lassen. Daneben existiert vielerorts eine papierbasierte Aktenverwaltung parallel zum digitalen Archiv. Die wertvollen "Big Data" der Kliniken liegen damit verstreut brach. Nach den Vorstellungen von Schmücker gehört die Zukunft den systemübergreifenden Multimedia-Archiven – integrierende Content Management-Systeme für alle Anwendungen und Datentypen eines Krankenhauses. Dabei verwalten Inhaltsverzeichnisse innerhalb der einzelnen Informationssysteme die jeweiligen Datenbestände, die sich in einer digitalen Gesamtablage befinden. Die Anwender können auf alle archivierten Informationen zugreifen und zum Beispiel aus Fallsicht zielorientiert auswerten. Um im Bild zu bleiben: Statt weiter an einem Datengrab zu schaufeln, bergen Kliniken ihre Informations-Schätze. Ganz nebenbei gestalten sich Archiv-Administration und damit -Kosten effizienter. Die Ideen von Schmücker reichen noch weiter. Er denkt an eine vollständige Integration aller medizinischen Informationen – von Dokumenten und "strukturierten Daten". So könnten zum Beispiel auch EEG- oder Lungenfunktionsmessungen ihren Weg in das Multimedia-Archiv finden. Derzeit böten nach seiner Einschätzung noch zu wenige Hersteller vollständig integrierte, digitale Archiv-Lösungen auf dem deutschen Markt an.
Die Zukunft: Übergreifende, digitale Patientenakte
Paul Schmücker denkt über die Archivmauern eines Krankenhauses hinaus. Seine Vision: die "übergreifende, digitale Fallakte". Alle für einen Behandlungsfall relevanten Daten verbleiben physikalisch an ihrem Entstehungsort im Krankenhaus oder in der Arztpraxis. Die in einer digitalen Fallakte hinterlegten Informationen dienen quasi als Inhaltsverzeichnis und Wegweiser, um auf die jeweiligen Informationen zuzugreifen. Innerhalb einer Region oder eines Klinikverbundes ermöglicht die Fallakte den nahtlosen Informationsfluss zwischen den einzelnen Behandlungsbeteiligten allein nach Versorgungsgesichtspunkten. Selbstverständlich muss auch diese Fallakte den hohen Datenschutzauflagen in Deutschland genügen. Als Herr seiner Daten könnte zum Beispiel der Patient selbst Zugriffsrechte selektiv gewähren. Die allseitigen Vorteile liegen auf der Hand: Ein elektronischer Falldatenaustausch spart nicht zur Zeit und Kosten, sondern verhilft dem Patienten zu einer besseren Behandlung. Damit avanciert eine durchdachte, digitale Datenarchivierung von der einst langweiligen IT-Pflichtübung zur Voraussetzung für den effizienten Behandlungsdatenaustausch der Zukunft.


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