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Medizinische EntscheidungsunterstützungDie neuen Helfer

IT-Hersteller arbeiten unter Hochdruck am perfekten Zusammenspiel verschiedener Warnsysteme und Wissensdatenbanken. Die intelligente Software soll helfen, Patienten vor Fehlern von Ärzten und Pflegekräften zu schützen – doch es gibt Akzeptanz-Probleme.

Fest steht: Irgendwo muss man anfangen. Einige setzen auf Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) und nutzen hierfür ihre Apotheken-Software, um Präparate automatisch abzugleichen. Wie im St. Franziskus-Hospital in Münster: Das Personal sucht dort heute nur noch 20 Prozent der früher benötigten Zeit in der Roten Liste. Andere Kliniken setzen auf Datenbanken, zu denen jeder, der Medikamente verschreibt oder verabreicht, Zugriff hat. Die umfangreichste Datenbank dieser Art hat aktuell wohl die Medizinische Hochschule Hannover, deren Zentrum für Arzneimittelsicherheit in seiner Datenbank AID-Klinik monatlich steigende Abfragen verzeichnet – zählte das System im Juli 2012 noch 27.500 Zugriffe, waren es im Januar 2013 31.020. Das zeigt: Der Bedarf ist da. Aber erfüllt eine Stand-alone Lösung für AMTS bereits das, was der Begriff der medizinischen Entscheidungsunterstützung meint?

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Definitorische Leerstelle
„Medizinische Entscheidungsunterstützung kann auch ein Fachbuch oder der Rat eines Kollegen sein”, legt Stefan Schwenzer, Leiter der Arbeitsgruppe AMTS beim bvitg, den Finger in die Wunde des Wortmonsters. Hauptberuflich leitet er bei ID Berlin den Bereich Medikationssoftware und kennt auch aus dieser Perspektive die Problemlage gut: „Im Kontext der IT geht es um die gezielte Bereitstellung von Informationen über AMTS bis zu ausprogrammierten klinischen Pfaden, und auch diese Spanne bietet noch viel definitorische Unschärfe”, sagt er.

Christian Wache, Leiter Produktmanagement bei Meierhofer, zaubert gleichfalls kein „Das ist es” aus dem Hut. Stattdessen fragt er, wo im Klinikalltag IT-gestützte Systeme Ärzte und Pflegepersonal sinnvoll unterstützen können, und kommt auf vier Kernbereiche: „Zum einen helfen Systeme Medizinern, immer in allen Bereichen auf dem aktuellen Stand zu bleiben. Dann lassen sich mit ihnen komplexe Analysen im Rahmen von Bildgebung, Signalverarbeitung oder des Zusammenspiels von Messwerten aus unterschiedlichen Bereichen vereinfachen. Systeme können im Rahmen von klinischen Pfaden mangelndes Erfahrungswissen ausgleichen, zum Beispiel bei Ärzten, die frisch von der Universität kommen. Und als vierter Punkt führen Systeme zur medizinischen Entscheidungsunterstützung zu vergleichbaren Ergebnissen und helfen bei der Qualitätssicherung”, umreißt er die Vielfalt.

Zurückgerudert
Um die Jahrtausendwende gab es schon einmal einen Hype um elektronische Unterstützung der Ärzte. Expertensysteme waren damals das Nonplusultra moderner Medizin – und dann waren sie wieder weg. „Vor 15 Jahren hatten wir mit einem Forschungsprojekt begonnen, bei dem wir zwischenzeitlich sogar vor der Uni Stanford lagen, denn sie hatten zwar Pfade modelliert, wir dagegen hatten schon eine Workflow Engine laufen”, blickt Martin Specht, Leiter des Arbeitsbereichs Administrative Applikationen am Uniklinikum Jena, zurück.

Trotz des Erfolgs folgte der Stopp. „Es ist ein wichtiges Thema, aber es ist auch sehr komplex, und für Einzelfragen ist häufig ein Aufwand notwendig, der nicht in Relation zu den Kosten steht”, begründet Specht die Entscheidung. Dazu sei jedes dieser komplexen Systeme, die auch Medikationen beeinflusst haben, als Medizinprodukt zu werten, das aufwendig zertifiziert werden muss. „Das ist von uns nicht zu leisten”, sagt Specht.

Gesetzeslage bremst
Das Medizinproduktegesetz ist auch für die Hersteller ein Hemmnis. „Beispielsweise ist ein Pacs im Rahmen einer EU-Direktive klar als Medizinprodukt eingeordnet”, berichtet Wache, „aber eine harte Checkliste, an Hand derer man sich als Hersteller orientieren kann, gibt es leider nicht”, kritisiert er die aktuelle Lage.

Und vielleicht scheuen sich auch manche Kliniken, allzu komplexe Systeme einzuführen. „Krankenhäuser müssen Zwischenfälle oder Beinahe-Vorfälle mit Medizinprodukten, bei denen Patienten gefährdet wurden, an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte melden”, sagt Armin Gärtner, öffentlich bestellter und vereidigter Gutachter für Medizintechnik. Das BfArM erfährt aber längst nicht alles, was es erfahren müsste. „Rückmeldungen aus Gesprächen zwischen dem BfArM und Anwendern legen jedoch die Vermutung nahe, dass hier eine relativ große Dunkelziffer nicht gemeldeter Vorkommnisse besteht”, meldete die Bundesregierung vor einem Jahr auf eine kleine Anfrage. Die branchenintern genannte Dunkelziffer liegt bei 50 Prozent. Da komplexe IT-Systeme in der Regel alle Eingaben und Aktivitäten protokollieren, könnte ein Klinikum zwar einen Fehler nicht melden; forschte jemand gezielt nach, wäre bei einem revisionssicheren System das Protokoll trotzdem noch da – und mit ihm der Beleg für eine eventuelle Haftung.

Alltagsnutzen = Im Alltag nutzen
Neben der juristischen Seite gibt es einen weiteren Bereich, der Mediziner beratende IT-Systeme mit spitzen Fingern anfassen lässt: Die Akzeptanz. „Dem Algorithmus einer Anwendung vertrauen Ärzte nur, wenn sie bei der Programmierung eingebunden waren, wenn sie also verstanden haben, was genau das System tut, und welche Meldungen es warum auswirft”, berichtet Specht aus dem Erfahrungsschatz des Uniklinikums Jena. Wenn Systeme komplex werden, muss das Expertenwissen dagegen Commonsense sein. „Die Fachgesellschaften müssen sich darüber einig sein, doch davon sind wir noch weit entfernt”, sagt der Fachmann für Medizin-IT.

Usability als Schlüssel zum Erfolg
Ein anderer Aspekt, der ebenfalls leicht aus dem Fokus gerät, ist Usability, die Bedienbarkeit und Durchschaubarkeit der Systeme. „Die Fragen, wie die Darstellung auf dem Monitor aussieht, und wie das System in den Arbeitsablauf eingebettet ist, werden gerne mal vernachlässigt”, berichtet Fleur Fritz, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für medizinische Informatik an der Universität Münster. Faustregeln gibt es leider nicht, denn: „Es kommt immer stark darauf an, in welchem Bereich und von wem die Anwendung zu welchem Zweck genutzt wird”, erläutert die IT-Expertin. Es gibt durchaus sehr gute Usability-Richtlinien, an die man sich halten sollte. Dennoch müssen Bereich und Zielgruppe berücksichtigt werden, so dass doch nicht alles mit Standards abzudecken ist, sondern individuell angepasst werden muss, damit das System vom Benutzer tatsächlich angenommen wird.

Höhere Akzeptanz schafft auch der Joy-of-use: „Ärzte und Stationspersonal müssen das System als Erleichterung erfahren”, bestätigt Jens Kaltschmidt, Geschäftsführer der Dosing GmbH. Gemeinsam mit dem Uniklinikum Heidelberg hat sein Unternehmen ein Leitlinien-System für Ärzte entwickelt – immer orientiert an der alltäglichen Praxis. „Mit dem System kommt der behandelnde Arzt mit maximal fünf Klicks über einfache Ja/Nein-Abfragen zu einem sinnvollen Ergebnis”, erläutert Kaltschmidt. Zu vermeiden sind zudem zu viele und unwichtige Alerts, damit es nicht zur sogenannten Alert-fatigue kommt, bei der Personal einfach jeden Alert wegklickt, weil kaum einer von diesen mit einer relevanten Meldung verknüpft ist. Und noch etwas vermeidet der Software-Hersteller: „Wir machen keine Full-Stopp-Systeme, sodass der Arzt auch bei einer Kontraindikation weiter arbeiten kann.”

Und schließlich muss die Einführung einer Software nicht nur auf der Seite der Programmierung sehr sorgfältig vorbereitet sein. „Als wir unser System für die Intensivstation einführten, ist niemand überrascht worden”, blickt Walter Schaffartzik, Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie am Unfallkrankenhaus Berlin (ukb), zurück . Lange vor der Einführung wurden bereits die betroffenen Schwestern und Ärzte informiert, kurz vor dem Roll-out einige ausgewählte Personen intensiv zu Experten geschult, um Kollegen im Alltag schnell helfen zu können. Parallel gab es eine Grundlagenschulung des gesamten Personals, das mit dem System arbeiten soll. „Wir haben es geschafft, dass das System von Beginn an vollständig akzeptiert war”, berichtet Schaffartzik. Denn alle teilten das Ziel der Einführung: „Ein ganz wesentlicher Aspekt war die Patientensicherheit, die wir mit dem System nachvollziehbar verbessern konnten.”

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