Zweitmeinungen werden immer bedeutender. Zum einen, weil der medizinische Nutzen vieler Therapien zusehends in Frage gestellt wird – beispielsweise sind nach einer Auswertung der Techniker Krankenkasse knapp 90 Prozent aller Rückenoperationen nicht notwendig. Zum anderen, weil die Krankenkassen Zweitmeinungsangebote massiv puschen. So plakatierte die AOK Rheinland/Hamburg zu Jahresbeginn den Slogan „Ich will die Zweitmeinungs-Koryphäe”. Viele andere Krankenkassen positionieren die Serviceleistung einer Zweitmeinung prominent in ihren Werbebroschüren und Internetseiten.
Nicht nur die Kassen arbeiten verstärkt mit Zweitmeinungsdienstleistern zusammen, auch die Kliniken werden zusehends aktiv. Das Klinikum Dortmund errichtete 2013 das erste Zweitmeinungszentrum in Nordrhein-Westfalen und verzeichnet seitdem einen stetigen Anstieg der Anfragen, die zu 80 Prozent an die Orthopädie und Wirbelsäulenchirurgie gerichtet sind. Im Jahr 2015 gingen insgesamt 442 Zweitmeinungsanfragen ein. In 25 Prozent der orthopädischen Fälle bestätigte das Zentrum die Erstmeinung nicht – in der Wirbelsäulenchirurgie waren es gar 50 Prozent. Diese Quote wird interessanterweise auch vom Zweitmeinungsanbieter medexo kommuniziert. Diese Differenz ruft zunehmend weitere Marktteilnehmer auf den Plan. So positionierte sich die Essener contilia-Gruppe jüngst gemeinsam mit dem Katholischen Klinikum Oberhausen unter der Marke „Netzwerk Zweitmeinung”.
Wie groß das Potenzial auf dem Zweitmeinungsmarkt ist, kann erahnt werden, wenn man alleine die Zahl der Knie- und Hüft-OPs betrachtet. Über 400.000 solcher Eingriffe werden jährlich in Deutschland durchgeführt. Hinzu kommen die Fälle, bei denen ein operativer Eingriff zumindest in Erwägung gezogen wurde. Für all diese Fälle wäre eine Zweitmeinung möglich gewesen und grundsätzlich auch von den Kassen bezahlt worden. Bei angenommenen Kosten von 5.000 Euro für eine Operation, von 250 Euro für eine Zweitmeinung und einer OP-Vermeidungsquote von 25 Prozent lässt sich ein Volumen von mehreren hundert Millionen Euro errechnen, wobei das Potenzial aus anderen Bereichen letztendlich weit darüber hinaus geht. Ähnlich sieht es bei den rund vier Millionen Bandscheibenvorfällen an der Lendenwirbelsäule aus, die jährlich in Deutschland diagnostiziert werden. Der entsprechende chirurgische Eingriff kostet etwa 5.000 Euro und ist umstritten. Sollten sich professionelle Zweitmeinungen erst einmal für Patienten und Kostenträger als medizinisch und ökonomisch sinnvoll erwiesen und als „normal” etabliert haben, dürften weitere Anwendungsfälle, beispielsweise onkologischer Art, hinzukommen.
Kassen werben für Zweitmeinungen
Viele Menschen geben sich bereits bei „Dr. Google” in Behandlung, suchen im Netz nach Behandlungsalternativen und -möglichkeiten. Sie prüfen Angebote unterschiedlicher Anbieter, seien es Kassen, Kliniken oder sonstige Dienstleister. Zwar sind Patienten, die kurzfristig eine Zweitmeinung suchen, fest an ihre Krankenkasse gebunden, gleichwohl ist eine solch wichtige Situation geeignet, einen Kassenwechsel in Betracht zu ziehen, selbst wenn es für den konkreten Behandlungsfall nicht mehr relevant werden könnte. Auch werden durch den Patienten medizinische Anbieter verglichen und perspektivisch immer häufiger selbst entschieden, welchem Anbieter man vertraut und in welche Obhut man sich begibt. So verwundert es nicht, dass nahezu alle Krankenkassen das Thema auf ihren Internetseiten anbieten und diese oftmals eine der ersten virtuellen Anlaufstellen der Hilfesuchenden sind.
Es erscheint nahezu zwangsläufig, dass die sehr ähnlichen Interessen der Patienten und der Krankenkassen Modelle entstehen lassen, die beiden Seiten gerecht werden. Neben der hohen fachlichen Qualität und einer gewissen Dringlichkeit spielen hier vor allem Service, Einfachheit und Zuverlässigkeit entscheidende Rollen. Daneben ist auch Vertrauen wichtig. Da Krankenkassen nicht die konkreten Untersuchungen des Patienten sehen sollen oder dürfen, ist die Einbeziehung eines neutralen Dienstleisters, der die Patientendaten im Rahmen der Zweitmeinungseinholung managt, naheliegend.
Das Geschäft funktioniert nur mit Fachleuten
Der Dienstleister kann die technische Basis dafür bereitstellen, dass der Patient seine Untersuchungen in maximaler Qualität, möglichst umfangreich und vor dem Hintergrund von Datenschutz und Datensicherheit mit einem guten Gefühl dem Zweitbefunder zukommen lassen kann. Hierbei können bestehende Strukturen, wie beispielsweise der Westdeutsche Teleradiologieverbund, der bereits über 220 Kliniken und Praxen technisch versorgt und als Netzwerk betreut, eine interessante Basis für größere und einrichtungsübergreifende Lösungsansätze sein. So verwundert es auch nicht, dass innerhalb des Westdeutschen Teleradiologieverbunds bereits erste Pilotprojekte von Portallösungen laufen, die es den Patienten ermöglichen, nicht nur eigenständig den Kontakt zu einem gewünschten Arzt aufzunehmen, sondern ihm auch die relevanten Untersuchungen, die er vom Erstbefunder bekommen hat, von zu Hause aus zuzusenden.
Die Patienten müssen gezielt zu den entsprechenden Fachärzten geleitet werden. Das Portfolio der Zweitbefunder muss die Krankenkasse nach qualitativen Kriterien zusammenstellen. Sichergestellt werden muss zudem, dass die Voruntersuchungen und Informationen den ausgewählten Arzt auch dergestalt erreichen, dass er diese entsprechend identifizieren und gut in einen entsprechenden Prozess überführen kann. Dieser muss sowohl dem Patienten schnell und zuverlässig eine Antwort garantieren als auch den Kassen die Informationen zukommen lassen, die zur Abrechnung, aber auch zur Qualitätssicherung und Evaluation erforderlich sind. Der Qualitätsfaktor ist hierbei für Patienten und Krankenkassen gleichermaßen wichtig. Eine qualitativ schlechte Erstmeinung darf nicht durch eine schlechte Zweitbefundung in Frage gestellt werden. Auch muss die Zweitmeinung, damit die Systematik funktioniert, von einem anerkannten Spezialisten abgegeben werden und auch möglichen weiteren Überprüfungen standhalten.
Der Markt wird sich schnell konsolidieren
Mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz, dem sogenannten E-Health-Gesetz, und dem Einzug der Telemedizin in den Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) für Kassenärzte kommt spürbar Fahrt in das Geschäftsfeld der Zweitmeinungen. Kliniken und Ärzte bieten ihren Zweitmeinungsservice meist noch zurückhaltend an, um zunächst einmal nur die Kontaktaufnahme per Mail oder Telefon zu ermöglichen. Konkrete Schritte zu einer Zweitmeinung und daraus folgende Handlungen werden dann mit dem Patienten individuell besprochen und organisiert. Klare Prozesse, Automatismen und technische Systeme sind noch selten anzutreffen. Um erfolgreich zu sein, spielt Zeit eine Rolle, vor allem aber auch ein Angebot, welches von den Patienten gefunden wird und dem er vertraut. Darüber hinaus muss die Dienstleistung möglichst unverzüglich und auch ohne Schwierigkeiten nutzbar sein. Im Prozess darf es für den Anwender nicht viel schwieriger und zeitaufwendiger sein, als er es vom Online-Banking, dem Einkaufen bei Amazon oder dem Versenden einer E-Mail mit Anhängen gewohnt ist. Potenzielle Nutzer, die man auf diesem Wege verliert, verursachen letztendlich einen erheblichen Aufwand in der Nachbetreuung und somit Kosten – vom Image-Schaden einmal ganz abgesehen.
Zusammengefasst ist festzustellen, dass sich parallel zu den vielfältigen Entwicklungen im Zweitmeinungsmarkt sehr schnell dort auch Konsolidierungen einstellen werden. Neben einem medizinischen Fortschritt eröffnet der Markt aber auch interessante Potenziale für medizinische Einrichtungen, Krankenkassen und Dienstleister. Aus diesem breiten Spektrum an Marktteilnehmern, deren Stärken und Interessen, gilt es nun die besten Lösungen zu entwickeln. Auch zum Teil ungewöhnliche Kooperationen dürften hierbei, vorausgesetzt sie sind von funktionierenden Prozessen getragen, der Schlüssel zum Erfolg sein, um nachhaltige und wirtschaftliche Strukturen in relativ kurzer Zeit zu manifestieren.
Vorzeige-Netzwerk in NRW
Die Medecon Telemedizin GmbH wurde 2012 als Tochter des Netzwerks der Gesundheitswirtschaft an der Ruhr gegründet. Sie sollte den erfolgreichen Testbetrieb des Teleradiologieverbunds Ruhr mit rund 30 Kliniken und radiologischen Praxen, die untereinander Untersuchungen austauschen konnten, zu einem nachhaltigen Netzwerk entwickeln. Ende des Jahres 2015 waren 220 Einrichtungen über den Westdeutschen Teleradiologieverbund so vernetzt, dass im Monat 12.500 Untersuchungen übertragen und 2.400 Verbindungen zwischen Partnern aktiv genutzt wurden. Hierbei bediente der Verbund ganze Schlaganfall- und Traumanetzwerke. 2016 will sich der Verbund unter anderem in weiteren Bundesländern wie Niedersachsen, Hamburg und Schleswig-Holstein stärker etablieren.
Passendes Thema auf dem Hauptstadtkongress in Berlin:
Das Zweitmeinungsverfahren von morgen: Routineverfahren oder Utopie?
Freitag, 10. Juni 2016 | 09:00 - 10:30 Uhr


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