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Digitalisierungsboom in KlinikenKann das weg?

Bei vielen Kliniken türmen sich Patientenakten noch in großen Räumen oder Hallen. Doch der Druck, die Akten digital verfügbar zu machen, ist enorm gestiegen. Kaum verwunderlich also, dass das Geschäft mit digitalen Archiven boomt.

Auf der IT-Messe Cebit im März referierte die Assistentin des Tuttlinger Bürgermeisters über die „papierlose Ratsarbeit im Tuttlinger Gemeinderat”. Die schwäbische Kleinstadt ist kein Einzelfall – viele Institutionen verbannen in rasantem Tempo das Papier aus ihrem Alltag. Kommunale Ämter bieten ihre Dokumente online an, Bundesbehörden vernichten Papier tonnenweise und selbst die digitale Steuererklärung ist demnächst Pflicht. Dass dieser Trend nun auch Krankenhäuser mit ihren teils riesigen Aktenhallen erfasst, zeigt der Auftragsboom bei den Archivierungssoftwareherstellern. KIS-Marktführer Agfa hat 2015 mit seiner Archivierungssoftware Hydmedia allein 67 neue Kunden gewonnen – davon besaßen 56 das Krankenhausinformationssystem (KIS) Orbis von Agfa. Beim PACS-Hersteller Visus, der mittlerweile ebenfalls ein Dokumentenarchiv anbietet, waren es im selben Jahr 48 Neukunden in Deutschland. Ähnlich sieht es bei Marabu aus, dem Berliner Archivierungsspezialisten, der im vergangenen Jahr vom KIS-Hersteller Nexus gekauft wurde: „Unsere Umsatzsteigerung zum Vorjahr lag bei fast 40 Prozent”, so Geschäftsführer Ralf Günther.

MDK-Prüfung puscht Digitalisierung
Lange war die digitale Archivierung in Krankenhäusern ein Stiefkind – warum räumen nun immer mehr ihre teils riesigen Hallen mit Papierakten leer? Für diese Wende gibt es mehrere Erklärungen. Ein nicht zu unterschätzender Grund sind die vielen Krankenhausneubauten: Kein Träger will noch Geld in den Bau von riesigen Archivräumen stecken und kauft deshalb lieber Archivierungssoftware. Außerdem übt der Gesetzgeber spürbaren Druck auf die Kliniken aus. Ob Patientenrechte- oder E-Health-Gesetz, das Vorhalten von digitalen Dokumenten wird an vielen Stellen zur Pflicht. Der größte Druck geht jedoch von der Novellierung des MDK-Prüfverfahrens aus. In einem Halbsatz heißt es in der 2014 neu verfassten Prüfordnung: Krankenhäuser und Medizinischer Dienst der Krankenkassen (MDK) verständigen sich auf einen elektronischen Datensatz. Dabei geht es um eine umfassende Einsicht in Patientenakten und um viel Geld, das der MDK den Kliniken vorenthalten kann. Die meisten Häuser haben eine MDK-Prüfquote über zehn Prozent, die strittigen Beträge gehen jährlich schnell in die Millionen. Viele Klinikchefs sind alarmiert und offener als bisher für eine Investition in ein neues digitales Archiv.

Gute Auftragslage für Scan-Dienste
Ein weiterer Grund, weshalb Kliniken bisher so zögerlich Akten digitalisiert haben, ist die Rechtsunsicherheit bezüglich der Altdokumente. Nach wie vor fordert das Haftungsrecht, dass Krankenhäuser Patientenakten 30 Jahre aufbewahren müssen. Berufsrechtlich vorgeschrieben ist außerdem, dass medizinische Dokumentationen 10 Jahre, bei Studienunterlagen mit Patienten 15 Jahre, aufgehoben werden müssen. Wer auf Nummer sicher gehen und die Akten dennoch loshaben will, muss die alten Dokumente scannen und revisionssicher digital archivieren. Zwei Firmen haben sich auf dieses Geschäft mit Kliniken spezialisiert: DMI und der Heydt-Verlag. Drei bis fünf Cent kostet ein Scan mittlerweile – vor wenigen Jahren war es noch mehr als das Doppelte – auch diese Preisentwicklung ist ein Grund für den Boom. Imposante Scan-Maschinen besorgen heute die Massendatenverarbeitung. „Wer einmal neben einer solchen Maschine gestanden und den gesamten Logistik-Prozess der Papierverarbeitung gesehen hat, stellt ganz andere Fragen über digitale Archivierung als vorher”, sagt Sebastian C. Semler, der früher sechs Jahre bei Optimal Systems Produktmanager für elektronische Archivierung und war und heute Geschäftsführer der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF) ist. Ein Krankenhaus müsse sich im Klaren sein, welche Dokumente wie gescannt werden müssen, damit sie weitgehend rechtssicher sind. „Zwei Dinge gingen lange durcheinander: Ein Papier, das keine Urkunde ist, kann problemlos eingescannt und dann vernichtet werden”, erklärt Semler. „Nur die wenigsten Dokumente sind Urkunden, zum Beispiel die Patienteneinverständniserklärung. Hier empfiehlt sich die Risikoabklärung mit dem Haftpflichtversicherer. Auch primär elektronische Dokumente können heute Urkundenstatus haben, wenn eine qualifizierte elektronische Signatur des Ausstellers vorliegt. Versuche aus der Branche, Signaturverfahren an Stellen zu puschen, wo sie ohne weitergehende Qualitätssicherungsverfahren keine relevanten Mehrwerte in puncto Revisionssicherheit bieten, haben eher zur Verunsicherung beigetragen und damit dem Einsatz der digitalen Archivierung einen Bärendienst erwiesen”, so Semler. Heute wägen Kliniken ganz unterschiedlich ab, welche Dokumente sie wegwerfen, welche sie einscannen oder einlagern. Es gibt Kliniken, die bereits nach zehn Jahren wegwerfen und ein Restrisiko selber tragen, die Mehrheit hält die Akten aber als Papier oder digital 30 Jahre vor. „Immer mehr Kliniken archivieren in Absprache mit ihrem Haftpflichtversicherer”, sagt Semler.

Systemzwist: Agfa versus Visus
Wie viel Bewegung in den Markt der digitalen Archivierung gekommen ist, zeigen auch die Software-Konstellationen. Vor einigen Jahren war es nahezu undenkbar, dass ein Anbieter wie Optimal Systems sein Archiv in einem Haus mit Agfa-Krankenhausinformationssystem installiert, weil standardisierte Zugriffe auf eine externe Software schwer möglich waren. Mittlerweile muss Software viel stärker miteinander kommunizieren können und das belebt den Archiv-Markt. „Das Kundenverhalten hat sich geändert. Wir konnten speziell im Agfa- und Cerner-Umfeld punkten”, erklärt Marabu-Chef Ralf Günther. Auf der anderen Seite hat ein Sechstel der Agfa-Neukunden 2015 nicht das Agfa-KIS Orbis. Interessant ist bei der Entwicklung, dass mittlerweile auch Anbieter von Bildarchiven (PACS) in die Dokumentenarchivierung einsteigen. Das Bochumer Unternehmen Visus ist mit seinem Medical Archive der rührigste Vertreter. „Wir merken generell, dass die Kunden die Zahl ihrer Archive konsolidieren, bis dato hatte oft jede Fachabteilung ihr eigenes”, erklärt Visus-Geschäftsführer Jörg Holstein. „Bei uns ist derzeit jeder zweite Auftrag die Implementierung eines ganzheitlichen Archivs”, bemerkt der Gründer des PACS-Herstellers. Bilder und Dokumente in einem System archivieren, das ist das Versprechen von Visus. Eine Herausforderung sei dabei die große Zahl von Schnittstellen. „Wir haben Installationen in Häusern mit über 100 Schnittstellen – vom Endoskopie-Gerät über EKG und Röntgen bis zum KIS.” In jedem Fall ist der Entschluss zur digitalen Archivierung mit einem Änderungsprozess verbunden. „Unser System unterscheidet sich von den klassischen PACS-Anbietern dadurch, dass wir in Fällen denken. Wir arbeiten mit einem Aktenplan und unterstützen die Workflows des KIS. Unser Viewer wird hierzu direkt in den klinischen Arbeitsplatz integriert. Das Medical Archive hat die Zulassung zum Medizinprodukt”, so Holstein. IHE standardisiert sämtliche Arbeitsprozesse rund um das Archiv. Dies vereinfacht das Änderungs- und Risikomanagement für die IT und die IT-gesteuerte Medizintechnik. Anbieter wie Agfa oder Cerner mit eigenem PACS, KIS und Archivsystem setzen auf den holistischen Ansatz: „Wir stecken unsere Systeme sehr eng zusammen”, erklärt Oliver Paul, der eine interessante Doppelrolle einnimmt: Bei Agfa ist er Chef für die Archivsoftware (Hydmedia), außerdem ist er Gründer, Geschäftsführer und Inhaber des Scan-Dienstleisters Heydt-Verlag. Die Verzahnung, flankiert durch Workflow-Module, reduziere den Papier-Output und das Scan-Aufkommen spürbar, so Paul.

Viele Kliniken haben noch nicht in ein digitales Archiv investiert
Gründe für ein digitales Archiv gibt es viele: Subvention des Arztbriefs, MDK-Prüfungen oder die sich anbahnende Kontrolle der Behandlungsqualität. Auch ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Patient nach einem Krankenhausaufenthalt seine Akte digital übermittelt haben möchte. Hinzu kommt der wichtiger werdende Aktenaustausch mit niedergelassenen Ärzten, hier werden in Zukunft sicher keine Papierakten weitergereicht.

Auf der anderen Seite kommt der Boom für die Hersteller zur rechten Zeit: Denn der Markt für Bildarchive (PACS) und Krankenhausinformationssysteme ist weitgehend erschlossen. Selbst das Geschäft mit Fachabteilungssystemen ist merklich abgeflaut. Kliniken, die kein oder nur ein sehr rudimentäres digitales Archiv besitzen, gibt es dagegen noch reichlich.

Die acht großen Dokumentenarchivierer für Krankenhäuser

  • Soarian Health Archive – Cerner
  • Hydmedia – Agfa Healthcare
  • OS|ECM – Optimal Systems
  • d.3 – D.velop
  • Pegasos – Marabu
  • Ixos – Open Text Corporation
  • Nscale 7vecto – Ceyoniq Technology
  • Easy Archiv – Easy Software
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