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Managerin des Jahres 2021Alena Buyx – Ein Leben auf der Überholspur

Für Prof. Dr. Alena Buyx ist es erst herausfordernd, wenn sie zeitgleich drei oder vier Anforderungen zu bewältigen hat. Seit 2018 ist Buyx Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien an der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität München. Im Mai 2020 wurde sie zusätzlich zur Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats gewählt, und steht seitdem stark in der Öffentlichkeit.

Prof. Dr. Alena Buyx
Mike Auerbach/Thieme Group
Prof. Dr. Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, wurde mit dem Thieme Management Award als Managerin des Jahres 2021 ausgezeichnet.

An einem trüben Montagvormittag sitzt Prof. Dr. Alena Buyx in der Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrats in Berlin vor einer Bücherwand und ärgert sich, weil ihr das Passwort für das WLAN fehlt. Niemand könne ihr helfen, da die Geschäftsstelle wegen der Pandemie nicht besetzt sei. Doch dann klappt das Einloggen doch und sie entschuldigt sich, da sie wenigstens zeitweise an einer wichtigen Online-Sitzung teilnehmen müsse. Aber nebenbei könne sie durchaus schon Fragen beantworten und stehe auch für Fotos zur Verfügung. Vieles in ihrem Leben sei langfristig organisiert, erklärt sie, zum Beispiel stünden Ethikratssitzungen bereits Jahre im Vorhinein fest, viele Lehrtermine ebenfalls, also das Grundgerüst stehe, den Rest manage sie spontan. „Ich bin ganz gut im Improvisieren, vieles passiert ad hoc, etwa, wenn Journalisten oder Sender anfragen. Ich halte oft viele Bälle in der Luft, das macht mir Spaß, das ist für mich eher positiver Stress“, erzählt die Wissenschaftlerin. Sie ist voll konzentriert, zugleich freundlich und zugewandt.

Schon oft hat sie vieles gleichzeitig in Angriff genommen und bewältigt. „Ich habe immer auf mehreren Hochzeiten getanzt, das scheint mir zu liegen“, sagt Buyx. Als Kind und Jugendliche spielt sie zeitweise in zwei Orchestern und singt in drei Chören. Nach dem Abitur will sie Medizin studieren und Ärztin werden, aber auch weiterhin ihrer Leidenschaft für Philosophie nachgehen, die sie in der Oberstufe entdeckt hat. Kurzerhand beschließt sie, beides zu studieren, und zieht das trotz anfänglicher Ablehnung durch das Prüfungsamt der Universität Münster auch durch. „Es hat mich einfach beides interessiert. Ich wusste anfangs noch nicht, worauf das alles hinausläuft“, erzählt sie. Das Ende des Studiums sei hart gewesen, sie muss parallel ihr Praktisches Jahr, ihre medizinische Promotion und die Vollapprobation als Ärztin erwerben und außerdem noch ihren Magisterabschluss in Philosophie und Soziologie absolvieren, aber sie schafft es und hat 2005 nach acht Jahren Studium den Abschluss in allen drei Fächern in der Tasche.

Karriere im Eiltempo

Ihre berufliche Karriere sei keineswegs von langer Hand geplant gewesen, versichert Buyx. Sie ist sich lange unsicher, ob Medizinethik nicht eine brotlose Kunst ist. „Das ist ein winziges Fach, das eher einen Orchideen-Status hatte und noch hat.“ Doch Bettina Schöne-Seifert, Professorin für Medizinethik an der Universität Münster und Mutter von vier Kindern, habe ihr gezeigt, dass man auf höchstem Niveau forschen könne und dennoch nicht auf eine Familie verzichten müsse. Nach dem Studium arbeitet Buyx drei Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Schöne-Seifert in Münster, erhält dann ein Stipendium für ein bekanntes Programm in Medizinethik in Harvard, wo sie auch ihren späteren Mann kennenlernt. „In Harvard lernt man in einer Woche so viel wie woanders in einem Monat“, schwärmt sie. Dann folgt auch schon eine Anstellung in London als stellvertretende Direktorin des englischen Ethikrates, anschließend habilitiert sie sich 2013 in Münster. Als der Ruf der Universität Kiel kommt, wo sie 2014 Professorin für Medizinethik und Co-Direktorin des Instituts für Experimentelle Medizin wird, erwartet sie gerade ihr zweites Kind. „Das waren wilde Zeiten“, erinnert sie sich. 2018 tritt sie eine Professur für Medizinethik in München an. Zugleich wird sie Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Technischen Universität München.

Alena Buyx wurde 1977 in Osnabrück geboren und wächst in der Nähe von Münster auf. Nach dem Abitur absolviert sie innerhalb von acht Jahren ein Doppelstudium in Münster, York und London. 2005 promoviert sie in Medizin, erwirbt die Vollapprobation als Ärztin und schließt das Magisterstudium mit den Fächern Philosophie, Soziologie und Gesundheitswissenschaften ab. Nach drei Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Münster und einem Jahr als Stipendiatin in Harvard ist sie vier Jahre lang stellvertretende Direktorin des englischen Ethikrats. 2013 habilitiert sie sich in Münster im Alter von 35 Jahren. Im Jahr darauf wird sie Professorin für Medizinethik an der Universität Kiel, bevor sie 2018 dem Ruf an die Technische Universität München folgt. Dort übernimmt sie die Professur für Ethik in der Medizin und Gesundheitstechnologien und wird zugleich Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik in der Medizin. Seit 2016 ist sie zudem Mitglied des Deutschen Ethikrats und wird im Mai 2020 zur Vorsitzenden gewählt. Im gleichen Jahr wird sie außerdem Mitglied der Wissenschaftsakademie Leopoldina.

Organisationstalent und Teamplayerin

Wie bekommt sie Beruf und Familie unter einen Hut? Sie setze klare Prioritäten, anders sei es überhaupt nicht machbar. Außerdem arbeite sie recht schnell und effektiv und könne gut delegieren. „Aber es geht nur als gutes Team, beruflich wie privat“, sagt sie. Mit ihrem Mann teilt sie sich die Familienarbeit auf. Ab und zu verpasst sie etwas, aber wichtige Termine sind meist strikt geblockt, etwa Feste oder wenn einer der Söhne beispielsweise in einem Theaterstück auftritt. „Und natürlich kommt Unvorhergesehenes dazwischen, das ist dann eben so.“ Als sich einer der Söhne bei einem Sturz verletzt, sagt sie eine wichtige Sitzung ab und fährt in die Schule.

Bereits seit 2016 ist sie Mitglied des Deutschen Ethikrats. Im Mai 2020 wird sie zur Vorsitzenden gewählt – ein Ehrenamt, das sie zusätzlich zu ihrer hauptberuflichen Arbeit an der Technischen Universität München ausübt. „Um alles bewältigen zu können, wurde meine Lehrverpflichtung etwas reduziert. Außerdem freue ich mich über das große Entgegenkommen der Uni-Leitung und die tolle Unterstützung durch mein Team am Institut.“ Der Ausnahmezustand der Corona-Pandemie hat jedoch auch sie zwischenzeitlich an ihre Belastungsgrenze gebracht. „Homeschooling und Homeoffice zusammen, das funktioniert schlichtweg nicht“, stellt sie fest.

Von riesigem Medieninteresse überrascht

„Moment, hier muss ich mich einklinken“, unterbricht sie und zeigt sich kurz in der Online-Sitzung, lächelt in die Kamera, gibt ein Statement und setzt dann das Interview fort. Zu ihren Aufgaben als Vorsitzende des Ethikrats gehört es, die monatlichen Sitzungen zu leiten, Politikerinnen und Politiker zu beraten und das ehrenamtliche Gremium in der Öffentlichkeit zu vertreten. „Mit einem derartig großen Interesse der Medien hatte ich allerdings nicht gerechnet“, räumt sie ein. In der Öffentlichkeit Auskunft zu geben, gehöre zu ihren klar definierten Pflichten, die sie erfülle, wobei sie sich von einem gewissen Sendungsbewusstsein auch nicht völlig freisprechen könne. Neben Interviewanfragen von Verlagen wird sie häufig in Talkrunden eingeladen, etwa in die Sendungen von Markus Lanz oder Anne Will. Dort drängt sie sich nicht in den Vordergrund, wählt ihre Worte sorgfältig und äußert auch Verständnis für andere Sichtweisen. Zugleich macht sie ihre Position jedoch mit klaren Argumenten deutlich.

Was die Arbeit des Ethikrats angeht, findet sie ebenfalls deutliche Worte. „Vielen ist nicht bewusst, dass der Ethikrat ein Expertengremium ist, in dem sich die Mitglieder mit einer wissenschaftlichen Herangehensweise mit Themen auseinandersetzen. Mit dem bloßen Austausch von Meinungen hat das nichts zu tun“, stellt sie klar. Ihre interne Rolle als Vorsitzende sei es zu moderieren. „In den Sitzungen loten wir die verschiedenen Perspektiven aus. Wenn wir uns einigen können, gibt es am Ende eine gemeinsame Empfehlung. Wenn nicht, veröffentlichen wir mehrere Positionen“, erläutert die 44-Jährige.

Schwierige Entscheidungen

Viele Fragestellungen, denen die Mitglieder des Deutschen Ethikrats seit Beginn der Corona-Pandemie nachgingen, seien nicht neu, sagt die Wissenschaftlerin. Mit der Frage von Triage sei etwa das Fach der Medizinethik seit Jahrzehnten befasst. In ihrer philosophischen Abschlussarbeit setzte sie selbst sich mit Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen auseinander. Darin ergründete sie unter anderem die Fragen, was zu tun sei, wenn es zu wenige Beatmungsgeräte für zu viele Kranke gebe und wer Vorrang haben solle, wenn die Zahl der Bedürftigen die Zahl der Intensivbetten übersteige. „Neu ist, dass aus der Theorie Praxis geworden ist“, schildert sie die besondere Situation in der Pandemie. Dass anfangs wenig über das Corona-Virus bekannt gewesen sei und sich die Lage ständig geändert habe, habe die Arbeit des Ethikrats herausfordernd gemacht. „Es war so, als würde man einen Pudding an die Wand nageln“, verdeutlicht sie. Manche Entscheidungen seien darum besonders schwierig gewesen. „Wir haben deshalb stets transparent gemacht, dass sich unsere jeweiligen Empfehlungen immer auf die momentane Situation der Corona-Pandemie bezogen haben, das hat sich als klug herausgestellt“, erläutert sie. Generell sei der Ethikrat lediglich ein beratendes Gremium, dessen Empfehlungen für Politikerinnen und Politiker nicht bindend seien.

Fühlt sie sich als Vorsitzende des Ethikrats unter Druck, sich überall und jederzeit vorbildlich zu verhalten? „Nein“, sagt sie und muss lachen, „in meiner Freizeit bin ich eine normale Privatperson.“ Wichtig sei, für sich selbst Räume zu schaffen, die privat blieben. Sie sei sowieso nicht jemand, der stark polarisiere. Die Positionen, die sie als Vorsitzende des Ethikrats, aber auch als Professorin für Medizinethik vertritt, hält sie selbst für eher moderat.

Dem Deutschen Ethikrat gehören derzeit 24 Mitglieder an, darunter sind viele Wissenschaftler, zum Beispiel Mediziner, Biologen, Theologen und Juristen. Die Mitglieder werden vom Präsidenten des Deutschen Bundestages ernannt. Das ehrenamtliche Gremium ist nicht weisungsgebunden und sucht sich seine Themen selbst, kann aber auch Aufträge aus der Politik annehmen. Aufgabe des Ethikrats ist es, die öffentliche Debatte über ethische Themen zu befördern und die Politik in ethischen Fragen zu beraten. Die Politikerinnen und Politiker können den Empfehlungen des Ethikrats folgen, müssen es aber nicht.

Das Plenum des Ethikrats trifft sich einmal im Monat, um über ethische Fragen zu debattieren. Das Themenspektrum reicht von der Gen- und Präimplantationsdiagnostik über Sterbehilfe, künstliche Intelligenz und Organspende bis hin zu Intersexualität und anonymer Kindesabgabe. Dabei geht es häufig um Fragen der Gerechtigkeit und Solidarität sowie den Schutz schwächerer Bevölkerungsgruppen. Während der Pandemie fanden die Äußerungen und Empfehlungen des Gremiums besonders starke Beachtung.

„Man muss nicht perfekt sein“

Müssen sich Frauen stärker durchsetzen und mehr kämpfen als Männer, um in hohe Führungspositionen zu gelangen? Bei dieser Frage runzelt sie die Stirn und korrigiert, Frauen seien nicht selten in Führungspositionen vertreten, nur weniger. Nein, sie sei nicht anders behandelt worden als Männer, werde aber durchaus immer wieder sexistisch angegangen. Ihr habe bei ihrer Karriere geholfen, dass sie mit Professorin Schöne-Seifert ein Vorbild hatte, an dem sie sich orientieren konnte und die ihr vieles vorgelebt habe. An weiblichen Rollenvorbildern mangele es aber häufig, das erschwere Frauen den beruflichen Aufstieg. „Da muss sich noch etwas tun“, sagt sie. Ansonsten sei entscheidend, sich selbst etwas zuzutrauen. Sie ermuntert junge Frauen, sich einen Ruck zu geben und mit mehr Mut ihren eigenen Weg zu gehen. „Man muss nicht 120-prozentig perfekt sein und alles schon können und wissen, 100 Prozent genügen auch“, appelliert sie. Männern reiche auch mal bereits ein Know-how von 70 Prozent, um überzeugt zu sein, dass sie perfekt für eine Führungsrolle gerüstet seien, das wäre gut belegt. „Ich habe zudem häufig andere um Rat gefragt“, sagt sie und empfiehlt dies auch anderen Frauen. „Man ist nie allein, man kann sich immer Unterstützung holen.“

Aus der Pandemie lernen

Und welche Themen hat sie sich für die nächsten Monate vorgenommen? Womit möchte sie sich als Vorsitzende des Ethikrats und als Wissenschaftlerin künftig befassen? „Eine große Herausforderung wird sein zu analysieren, was wir aus der Corona-Krise in ethischer Hinsicht lernen können und wie wir uns auf eine mögliche nächste Pandemie, aber auch auf andere Krisen, vorbereiten können“, erläutert Buyx. Weiterhin werde der Rat sich mit den Themen Suizidassistenz sowie Mensch und Maschine, also künstlicher Intelligenz, befassen. Bei letzterem Themenfeld, an dem sie selbst an der Technischen Universität München forscht, geht es darum, die Datenbasis und die Funktionsweise der Algorithmen kritisch zu hinterfragen. Häufig sei nämlich unklar, nach welchen Prinzipien die Daten ausgewertet würden. Als problematisch sieht sie es auch an, dass bei der Programmierung von Algorithmen ab und zu Datensätze zum Einsatz kämen, die nicht die tatsächliche Realität widerspiegelten. „Das verzerrt das Ergebnis“, sagt sie. Eine zentrale Frage werde auch sein, welche Folgen es haben kann und wie verantwortbar es ist, wenn Algorithmen künftig ohne menschliche Kontrolle agieren können. Sie beschreibt es so: Die Frage sei, ob „the human in the loop“ bleibe oder „out of the loop“. Wer ist verantwortlich, wenn sich Menschen komplett zurückziehen und den Algorithmen das Feld überlassen? „Das ist ein Bruchpunkt“, sagt sie. Sie persönlich sei der Ansicht, dass immer Menschen die Kontrolle behalten müssten, also für „human in the loop“.

Mittlerweile ist die Online-Konferenz beendet und auch der vereinbarte Zeitrahmen für das Interview ausgeschöpft. Die hochhackigen Pumps, in die sie für die Fotos geschlüpft ist, hat Buyx längst wieder mit bequemen Turnschuhen vertauscht. Sie atmet kurz durch, bietet noch einmal mitgebrachte Kekse an und entschuldigt sich erneut für die Hektik. Sagt es, verabschiedet sich und eilt den Gang entlang zum nächsten Termin. 

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