
Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen wird als Thema immer wichtiger. Wie kann das in der Praxis denn noch stringenter umgesetzt werden?
Prof. Dr. Christian Schulz: Bei KLUG beschäftigen wir uns sehr intensiv mit dem Thema Klimaneutralität und Ressourcenschonung in Gesundheitseinrichtungen. Die Ambitionen im Gesundheitssektor werden der Klimakatastrophe nicht gerecht. Aus dieser Erkenntnis heraus hatten wir 2021 beschlossen, die in diesem Kontext relevanten verschiedenen Handlungsfelder der einzelnen Einrichtungen in möglichst kurzer und bündiger Weise in einem Rahmenwerk zusammenzufassen.
Welchen Kontext meinen Sie?
Der Gesundheitssektor trägt fünf Prozent zu der globalen Klimakatastrophe mit all ihren Folgen bei. Wir wollen gute Medizin machen, das geht aber nur klimaneutral. Wir sehen, dass uns die Pandemie global an vielen Stellen an die Grenzen gebracht hat, auch das Gesundheitssystem in Deutschland. Wir sehen genauso, dass andere Krisen nicht gewartet haben. Wir haben eine rasch fortschreitende Klimakrise. Wir haben einen fossilen Krieg in der Ukraine, bei dem kein Ende absehbar ist. Die Hoffnung, Krisen nacheinander in Ruhe abarbeiten zu können, ist zerstoben. Wir finden nur die richtigen Antworten auf die aktuelle Krisensituation, wenn wir versuchen, mit Maßnahmen möglichst vielen dieser Krisen gleichzeitig Herr zu werden. Diese Maßnahmen gibt es. Wir müssen uns mehr bewegen, wir müssen mehr Gemüse und weniger Fleisch essen und vor allem die Energiewende deutlich beschleunigen. Und das gilt natürlich auch für Krankenhäuser. Wenn ein Krankenhaus den Großteil seiner Energie mit Photovoltaikanlagen erzeugen könnte oder mit Windkraft, wäre es nicht nur nachhaltiger, sondern könnte sich angesichts der Energiekrise entspannt zurücklehnen.
Zur Person

Bereits als habilitierter Facharzt für Anästhesie an der Technischen Universität München hat sich Prof. Dr. Christian Schulz für das Themenfeld Klimawandel und Gesundheit interessiert – er leitete dort eine Arbeitsgruppe zum Klimawandel, um den ökologischen Fußabdruck der Medizin zu senken. Seit Februar 2021 lässt er seine klinische Tätigkeit ruhen, um als Geschäftsführer der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG) e.V. das Thema voranzutreiben. Schulz ist Mitherausgeber des Rahmenwerks „Klimagerechte Gesundheitseinrichtungen“ und von „Planetary Health - Klima, Umwelt und Gesundheit im Anthropozän“, des ersten Fachbuchs, das die gesundheitlichen Auswirkungen durch die Überschreitung ökologischer Belastungsgrenzen zusammenfasst.
Konnten Sie in den vergangenen Monaten eine positive Entwicklung feststellen, ist das Thema Nachhaltigkeit nun endgültig in der Kliniklandschaft angekommen?
Wir haben das Rahmenwerk in einer Zeit geschrieben, in der die Corona-Krise eine sehr große Rolle spielte. Es war aber auch zu einer Zeit, in der in der Medizin insgesamt eine Sensibilisierung stattgefunden hat, ein Aufwachen. Die Gesundheitsberufe verstehen immer mehr, wie sehr die Klimakrise sich gesundheitlich auswirkt und dass wir daher nebenwirkungsarme Gesundheitsleistungen nur dann erbringen können, wenn diese klimaneutral sind. Insofern hat sich, gerade auch mit Blick auf die sich immer stärker beschleunigende Klimakrise, sehr viel positiv verändert. Das heißt nicht, dass wir eine signifikante Reduktion von Treibhausgasemissionen oder des Ressourcenverbrauchs erreicht haben. Aber wir erleben jetzt eine ganz andere Dimension des Verstehens als noch vor einem oder zwei Jahren. Jetzt kann man die aktuelle Situation in einem ganz anderen Kontext benennen, beschreiben und grundsätzlich hinterfragen.
Aber reicht diese veränderte Wahrnehmung der Klimakrise auch dafür, um tatsächlich Änderungen auch zu bewirken?
Die Krankenhausgesellschaft Nordrhein- Westfalen und die Deutsche Krankenhausgesellschaft haben im vergangenen Jahr jeweils entsprechende Gutachten auf den Weg gebracht, die letztendlich mehr Geld fordern, wie viele andere auch: Wir haben einen Investitionsstau, der die Umsetzung von Nachhaltigkeit in Krankenhäusern behindert, und jetzt werden der Staat oder die Länder aufgefordert, das benötigte Geld zur Verfügung zu stellen. Aber die Mittel sind knapp, viele Sektoren rufen nach Investitionsmitteln oder nach Unterstützung. Was aber beiden Gutachten fehlt, ist der Blick auf das große Ganze: Welche Rolle spielt Überversorgung, nicht nur im Sinne von zu vielen Krankenhäusern, sondern auch im Sinne nichtnotwendiger Therapien? Ist angesichts von Überversorgung nicht doch genügend Geld im System? Wieviel Geld würde frei, wenn das Bundesfinanzministerium seine Verantwortung wahrnimmt in Bezug auf die Prävention von Erkrankungen, wenn zum Beispiel ungesunde Lebensmittel angemessen besteuert und gesunde Lebensmittel steuerlich entlastet würden? Wie ist hier unsere eigene Rolle definiert? Da sollte angesetzt und nach Lösungswegen gesucht werden.
Nun sind viele Maßnahmen für mehr Nachhaltigkeit nicht neu, zum Beispiel, dass es auch klimaschonendere Narkosegase gibt. Warum werden im Klinikalltag solche Ansätze dennoch nicht flächendeckend konsequent umgesetzt?
Es ist immer eine Frage des Zeitpunkts. Schon in den 1970er-Jahren wurde in der Publikation des Club of Rome vorhergesagt, was momentan passiert. Und danach ist nichts passiert. Im Gesundheitssektor wissen wir, dass wir einen hohen Impact auf das Klima haben, aber auch hier ist lange nichts passiert. Jetzt, im Jahr 2023, befinden wir uns aber in einer vollkommen anderen Situation als noch vor wenigen Jahren. Wir haben eine Bewegung im Gesundheitssektor, die viel sensibilisierter ist als vorher und die schon jetzt die gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch die Art und Weise, wie wir wirtschaften, erkennt. Wir stehen erst am Anfang dieser Entwicklung. Bei Narkosegasen ist klar: Desfluran, das klimaschädlichste unter ihnen, ist aufgrund dieser Wirkung und nicht nennenswerter Vorteile für die Patienten kontraindiziert. Und die vielgerühmte Filtertechnologie kann nur einen Bruchteil der Narkosegase absorbieren.
Im Gesundheitssektor wissen wir, dass wir einen hohen Impact auf das Klima haben, aber hier ist lange nichts passiert.
Was muss jetzt passieren, um mehr Geschwindigkeit in die Transformation des Gesundheitswesens zu bekommen?
Am Anfang steht das Verständnis, dass wir ein krankes Pferd reiten: Fachkräftemangel bei gleichzeitigem demografischen Wandel, ein hohes Maß lebensstilassoziierter Erkrankungen, eine Zunahme der Krankheitslast aufgrund der Klimakrise, die Energiekrise, möglicherweise langfristig zurückgehende Einnahmen der Krankenkassen und nun auch noch der Zwang, ökologische und damit gesundheitliche Folgekosten zu internalisieren. Aber: Wenn wir den Blick schärfen für die Abhängigkeiten in diesem Kontext, steigt natürlich auch die Bereitschaft, Dinge im Krankenhaus umzusetzen. Mit vielem kann sofort begonnen werden und das ist enorm wichtig.
Braucht es im Gesundheitswesen veränderte Rahmenbedingungen, um effektiv auf Nachhaltigkeit setzen zu können?
Es ist klar, dass wir ein Problem mit dem Regelungsrahmen haben. Selbst ein Haus, das sagt, wir werden jetzt klimaneutral, weil es gar nicht anders geht und alles andere medizinisch unethisch ist, wird Probleme bezüglich der Finanzierung bekommen. Die duale Krankenhausfinanzierung und die Sozialgesetzbücher behindern Bemühungen für mehr Nachhaltigkeit. Und deswegen werden wir den letzten Schritt, den wir gehen müssen, erst gehen können, wenn wir die entsprechenden Hürden in dem Regelungsrahmen auch beseitigen und durch entsprechende Anreizsysteme ersetzen.
Welche Anreize wären sinnvoll?
Wir brauchen zuerst eine Zielvorstellung: Wie sieht ein im Jahr 2050 resilientes Gesundheitssystem im Kontext multipler planetarer Krisen aus und was müssen wir dafür heute schon ändern? Die Frage ist: Wie wird ein nachhaltiger Gesundheitssektor gegenfinanziert? Wie ermöglichen wir auch mit weniger Geld und Personal trotzdem eine bessere Medizin? Wir brauchen mit Sicherheit weniger Krankenhäuser, wir müssen nichtnotwendige Therapien vermeiden und brauchen ein Verständnis von Verhältnisprävention, das die Verantwortung aller Ministerien miteinschließt. Wir müssen die Häuser oder Gesundheitseinrichtungen besonders honorieren, die an dieser Stelle besonders gute Arbeit leisten. Zum Beispiel, indem wir die Leistungsvergütung teilweise an Nachhaltigkeits-Faktoren koppeln. Es ist unumgänglich, dass jedes Krankenhaus sich ökologischer ausrichtet und damit auch gesundheitliche Folgeschäden reduziert.
KLUG-Rahmenwerk „Klimagerechte Gesundheitseinrichtungen“
Wie ist es möglich, trotz ökonomischer Grenzen den ökologischen Fußabdruck eines Krankenhauses zu reduzieren? Mit dem Rahmenwerk „Klimagerechte Gesundheitseinrichtungen“ gab KLUG im Juni 2021 einen Leitfaden mit den wichtigsten Handlungsfeldern heraus, um das Ziel eines klimaneutralen Gesundheitswesens bis 2035 anzugehen. Dabei wird unterschieden zwischen schnellen Interventionen mit Kostenersparnis und langfristigen Maßnahmen. Es richtet sich an alle Berufsgruppen des Gesundheitswesens und gibt Argumentationshilfen, um Entscheiderinnen und Entscheider zu überzeugen und gemeinsam mehr Nachhaltigkeit umzusetzen. Das Werk gibt es als pdf zum Download.
Die meisten Emissionen werden indirekt im sogenannten Scope 3 entlang der Wertschöpfungskette erzeugt, den Krankenhäuser selbst nur begrenzt beeinflussen können. Große Investitionen für zum Beispiel Gebäudesanierungen sind zudem oft nicht möglich. Wie wirksam sind denn kleinere Maßnahmen in anderen Sektoren, wie sie in Ihrem Rahmenwerk vorgestellt werden?
Der Zustand unseres Planeten macht uns schon jetzt so einen enormen Druck – es ist keine ökologische Krise mehr, es ist auch eine Wirtschaftskrise, die daraus folgt. Und eine Gesundheitskrise sowieso. Es ist keine Option, auf eine Finanzierung von Bund oder Ländern zu warten. Die Zeit läuft uns davon. Jedes Haus kann aber auch jetzt schon viel erreichen, ohne wesentliche Investitionsmittel in die Hand zu nehmen. Das Argument, wir haben kein Geld, also können wir nichts machen, zieht nicht. Dazu gibt es zu viele Häuser, die sich schon längst auf den Weg gemacht haben. Auch in Scope 1– das sind die direkten Emissionen des Krankenhauses – und Scope 2 – indirekte Emissionen aus eingekaufter Energie – kann mit geringinvestiven Maßnahmen einiges bewirkt werden, wenn man sich mit seinen Mitarbeitenden denn entsprechende Ziele setzt.
Also ist das Wichtigste, überhaupt den ersten Schritt zu machen?
Natürlich ist es nicht so, dass ein Haus innerhalb von zwei Jahren klimaneutral wird. Erste Maßnahmen führen dazu, dass das Haus sich auf den Weg macht, daraus dann sofort erste Einsparungen resultieren und auf diese Weise die Basis für weitere Anpassungen und vielleicht sogar die Finanzierung dafür geschaffen werden. Wir wissen aus den Rückmeldungen unseres Netzwerks, dass unser Rahmenwerk ein hilfreicher Ausgangspunkt ist. Es ist gut, die einzelnen Handlungsfelder, in denen man Emissionen einsparen kann, zu kennen. Wenn es aber konkret in die Umsetzung geht, ist mehr notwendig als unser Rahmenwerk. Wir brauchen Netzwerke, Expertinnen und Experten in den Gesundheitseinrichtungen und mehr Beratungskompetenz. Wenn sich verschiedene Häuser, die besonders ambitioniert sind, zusammenschließen und Synergien schaffen, werden dadurch auch mehr Lösungen zustande kommen.
Blicken Sie optimistisch in die Zukunft? Ist ein klimaneutrales Gesundheitswesen zu realisieren?
Allein durch den Ukraine-Krieg haben wir möglicherweise das 1,5 Grad-Ziel schon verfehlt. Wir sind im Moment auch weit davon entfernt, eine Begrenzung der globalen Erwärmung auf zwei Grad zu schaffen. Wir sehen nicht nur eine große Beschleunigung in dieser Entwicklung – die Temperatur steigt schneller, als wir gehofft haben –, sondern wir sehen auch, dass die Auswirkungen schon jetzt viel katastrophaler sind als wir das vor zwei, drei Jahren noch gedacht hätten. Es gibt Lichtblicke, aber überhaupt keinen Grund für Optimismus. Aber wir können es schaffen, dass vor allem mehr Menschen in Entscheiderpositionen noch schneller ein besseres Verständnis dafür entwickeln, wie viele Vorteile es hat, konsequent das Klima und die Ressourcen zu schützen. Welche unschätzbaren Vorteile das für die Gesundheit, aber auch auf wirtschaftlicher Ebene hat.





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