
Sie sind vielleicht die größten Sorgenkinder im deutschen Gesundheitswesen: Die Notaufnahmen. Patientinnen und Patienten klagen über stundenlange Wartezeiten. Das Personal arbeitet am Anschlag. Und die Geschäftsführung verzweifelt am Defizit, das diese Abteilungen regelmäßig einfahren. Dennoch wird die Situation an den meisten Kliniken seit Jahren als gegeben hingenommen. Vermeintliche Fachleute tingeln durch das Land und planen Notaufnahmen, ohne sich mit den Bedürfnissen der Pflegekräfte, des Rettungsdienstes und der Patienten wirklich auseinanderzusetzen. Oft sind diese Einheiten bei der Eröffnung schon zu klein. Die zuständigen Behörden fixieren das Problem, indem sie nicht mehr Behandlungsplätze fördern. Und Gesundheitsminister Jens Spahn kommt bei der Reform der Notfallmedizin nicht wirklich in Schwung.
„Die Idee, die Gesamtzahl der Kliniken deutlich zu reduzieren und die Akutversorgung zukünftig 24/7 in integrierten Notfallversorgungszentren unter Leitung der Kassenärztlichen Vereinigung abzubilden, ist nicht nachvollziehbar“, kritisiert Dr. Tim Flasbeck, Chefarzt der Zentralen Notaufnahme am Carl-Thiem-Klinikum Cottbus. „Integrierte Notfallversorgung ist meiner Meinung nach absolut erstrebenswert, aber sie muss auch umsetzbar sein! Für große Versorgungszentren mit dann entsprechendem Rund-um-die-Uhr-Zulauf fehlt es jedem Haus, das ich kenne, an Behandlungskapazität. Die meisten Notaufnahmen dekompensieren heute schon nahezu täglich und das wird durch die geplante Reform sicher nicht besser werden.“
Hohe Unzufriedenheit bei Pflegekräften sowie Patientinnen und Patienten
Seit zwölf Jahren beschäftigt sich Flasbeck bereits mit dem Gedanken einer prozessoptimalen Notaufnahme. Neben seiner Chefarzttätigkeit in Cottbus unterstützt der international angesehene Experte Krankenhäuser dabei, ihre Prozesse in der Notaufnahme zu analysieren und die Abläufe und Raumstrukturen zu reorganisieren. Dabei hört er vor allem denen zu, die von der Infrastruktur direkt betroffen sind: Tausende Daten, z.B. zu Wegstrecken, Bettenallokationszeiten oder Mitarbeiter- und Patientenzufriedenheit, wurden über Jahre immer wieder erhoben und ausgewertet. Das Ergebnis: Die, die in den Notaufnahmen ihren Arbeitsalltag leben oder als Patienten dort Hilfe suchen, sind mit den Millionen teuren Infrastrukturen selten zufrieden. „Die Lösung liegt in einer Steigerung der Effizienz. Es ist doch ein großer Unterschied, ob eine Pflegekraft für die Versorgung von zehn Patienten zehn Kilometer laufen und 90 Minuten telefonieren muss oder ob sie dafür zwei Kilometer braucht und das Telefon ganz bei Seite legen kann.“
„Das Stigma der Notfallambulanz muss weg“
Als Dr. Tim Flasbeck seine Karriere in der Notfallmedizin begann, fand er die Zustände unerträglich. „Die Notaufnahme war völlig überlastet. Der Stress war enorm und die Unzufriedenheit bei Patienten, Angehörigen, dem Rettungsdienst und den Pflegekräften groß.“ Dann bekam er die Chance, alles anders zu machen: 2013 wurde er Oberarzt der Abteilung für Nephrologie und Notfallmedizin am Klinikum Dortmund und trug dort die Verantwortung für die Notaufnahme. Das Besondere: Die über 1000 Quadratmeter große Notaufnahme war nagelneu; noch nicht mal die Türen waren beschildert. Flasbeck schlug trotzdem nach kurzer Eingewöhnungsphase vor, die Notaufnahme nochmal umzubauen und das Betriebskonzept nach seinen Vorgaben zu verändern.
„Rudolf Mintrop war damals selbst noch frisch im Amt als Geschäftsführer“, erinnert sich Flasbeck. „Man hatte ihn geholt, um den Maximalversorger aus den tiefroten Zahlen zu holen.“ Trotz der finanziell angespannten Lage setzte Mintrop Flasbecks Vorschläge um und nahm Geld für einen erneuten Umbau in die Hand. Der Mut wurde belohnt: Innerhalb von zwei Jahren nahmen die Notaufnahmekontakte am Klinikum Dortmund um 26 Prozent zu – ohne neue Stellen zu schaffen und bei steigender Zufriedenheit des Notaufnahmepersonals. Kein Wunder, dass diese Zahlen in der Fachwelt auf Beachtung stießen: Aus Flasbecks Idee ist bis heute ein Konzept geworden, das das Potential für einen Paradigmenwechsel in der Medizin hat. „Wer die Prozesse in der Notaufnahme neu ordnet, profitiert auf vielen Ebenen: Bei der Versorgungsqualität, der Patientenzufriedenheit und der Mitarbeiterbindung in Zeiten des Fachkräftemangels und nicht zuletzt auch wirtschaftlich. Denn während Erlössteigerungen im elektiven Bereich nahezu nicht mehr zu realisieren sind, ist in der Notaufnahme fast immer Luft nach oben“, sagt Tobias Vaasen, zuständiger Partner bei WMC Healthcare für das Thema Notaufnahme.
Malteser Krankenhäuser erfolgreich in Akut-Kliniken umgewandelt
Dass sein Konzept im Prinzip an allen Krankenhäusern funktioniert, konnte Flasbeck u.a. bei der Malteser Deutschland GmbH zeigen. Dort nahm man den Paradigmenwechsel ernst: Alle Kliniken der Malteser sollten Akut-Krankenhäuser werden – mit der Unterstützung Flasbecks. 2017 wurde er Chefarzt der Klinik für Notfallmedizin im Malteser Krankenhaus in Bonn und übernahm die Planung der Notaufnahmen im gesamten Verbund. Seine Bedingung: Er brauche auch die Verantwortung für das Belegungsmanagement. „Moderne Notaufnahmen und Belegungsmanagement gehören zusammen“, stellt Flasbeck fest. „Stockende Entlassprozesse auf den Stationen, Erschöpfung der Behandlungskapazitäten oder zeitfressende Bettenallokation können nur durch ein modernes Belegungsmanagement wirklich verbessert werden.“
Offenes Raumkonzept ermöglicht Blickkontakt zwischen Pflegekraft und erkrankter Person
Bei seinen Raumkonzepten setzt Flasbeck auf eine Einteilung in Pflegebereiche, denen jeweils eine Pflegekraft fest zugeordnet ist. Alle zu behandelnden Personen können ihre verantwortliche Pflegekraft vom Behandlungsplatz aus sehen und umgekehrt, während sich die Personen untereinander nicht sehen können. Pflegepersonal und Ärzteschaft kommunizieren nonverbal über eine digitale Prozessvisualisierung, ohne dass Workflows unterbrochen werden. Sie sind mit mobilen Arbeitsinseln ausgestattet, an denen auch ein Computer zur Verfügung steht. Die Wagen der Pflege werden zu jedem Schichtbeginn neu bestückt, entsprechend einer im Vorfeld durchgeführten Pflegebedarfskalkulation. Auf diese Weise können Schichtwegstrecken auf ein Minimum reduziert werden.
Statt wie zuvor zehn bis zwölf Kilometer zu laufen, legt eine Pflegekraft in der Bonner Notaufnahme nach der Neustrukturierung nur noch rund drei Kilometer am Tag zurück. Durch die nonverbale Bettenallokation und das Belegungsmanagement kommt die Pflege heute ohne ein Telefonat aus, was ebenfalls enorm viel Zeit freigesetzt hat: In knapp drei Jahren haben die Notfallkontakte am Malteser Krankenhaus Bonn bei gleichem Stellenschlüssel von 38 auf 71 zugenommen. Trotz des Leistungszuwachses stieg die Zufriedenheit bei den Beschäftigten in der Pflege auf einer Skala von 1 bis 10 von 4,5 auf 8,5. Der Krankenstand sank von 13 auf unter drei Prozent. „Gab es zuvor wöchentlich Beschwerden von Patienten, blieben diese nach der Umgestaltung der Notaufnahme fast vollständig aus, obwohl – anders als zuvor – dann sogar aktiv nachgefragt wurde“, betont Flasbeck.
Umstrukturierung der Notaufnahmen stärkt Versorgungsqualität
Auch Tobias Vaasen ist von der Wirksamkeit der Maßnahmen überzeugt. „Die Notaufnahmekonzepte von Dr. Flasbeck lösen nahezu alle für Notaufnahmen typischen Probleme. Durch seine Art der Betriebsorganisation ermöglicht er quasi personalneutral die Behandlung von deutlich mehr Patienten und stärkt damit die Versorgungsqualität entscheidend.“ In Zeiten, in denen viele Kliniken ums Überleben kämpfen, ist das etwas, das man den Klienten bei WMC unbedingt anbieten wolle. Mit Flasbeck und seinem Kollegen Dr. Kay Kloft als externe Experten plane man bei WMC eine eigene Serviceline WMCemergency aufzubauen.
Die Aufmerksamkeit von Flasbeck muss sich Vaasen aber teilen, denn das Interesse an seiner Expertise ist groß. Bereits seit 2019 stellt er seine Konzepte international auf Kongressen vor. Das Gesundheitsministerium in Sri Lanka schickte seinen Staatssekretär nach Bonn, um sich selbst ein Bild von der Arbeit Flasbecks zu machen. Für eine Notaufnahme in Ugandas Hauptstadt Kampala engagiert sich Flasbeck seit Jahren ehrenamtlich. In Jalal Abad in Kirgistan unterstützt er zurzeit beim Aufbau einer Notaufnahme und führt die notwendigen Schulungen persönlich durch. Und auch das Königshaus Bahrein steht mit dem Düsseldorfer in Kontakt. Ganz nebenbei hat Flasbeck gemeinsam mit Dr. Götz Brodermann, dem Geschäftsführer des Carl-Thiem-Klinikum Cottbus, Großes vor: „Ich habe die Notaufnahme und auch das Belegungsmanagement in Bonn besichtigt und war begeistert“, erklärt Brodermann. Er sei sehr glücklich, dass er Flasbeck als Chefarzt gewinnen konnte. In Cottbus werde dieses Jahr noch eine neue Notaufnahme für 10 Millionen Euro entstehen. „Wir möchten zeigen, wie die Notaufnahme der Zukunft aussehen kann“, ergänzt Flasbeck.





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