
Schon vor einem Jahr haben chinesische Wissenschaftler eindringlich vor dem möglichen Auftauchen eines neuen Coronavirus gewarnt. Es sei „höchst wahrscheinlich“, dass der Erreger von Fledermäusen ausgehen werde. „Und es gibt eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass es in China passiert“, hieß es in der Studie, die im März 2019 im Fachjournal „Viruses“ veröffentlicht wurde. Die Autoren sind vier Forscher des Instituts für Virologie in der heute schwer von der Covid-19 genannten Lungenkrankheit betroffenen Metropole Wuhan und der Universität der chinesischen Akademie der Wissenschaften.
Forscher erkannten Gefahr des Erregers durch Fledermäuse
Das Forschungspapier liest sich wie das Skript für den Ausbruch des Coronavirus Sars-CoV-2, mit dem sich in China und in mehr als zwei Dutzend Ländern inzwischen Zehntausende Menschen angesteckt haben. Mehr als 2000 sind gestorben. Die Studie belegt, dass eine solche Epidemie durchaus zu erwarten war. Verwiesen wird darin auf das Virus Sars-CoV 2002/2003 hinter dem Schweren Akuten Atemwegssyndrom (Sars) mit 774 erfassten Toten weltweit und ein weiteres, Sads-CoV genanntes Coronavirus 2017 in China, das nur Schweine befallen hatte. Beide Erreger stammten von Fledermäusen. Es sei dringend erforderlich, die Hintergründe dafür zu analysieren, dass die Erreger auf Menschen beziehungsweise Schweine übergingen, hatten die Forscher angemahnt. In China lebten Fledermäuse nahe bei Menschen. Erreger könnten leicht auf Menschen oder Tiere übertragen werden. Auch die Nahrungsmittelkultur in China erhöhe das Risiko. „China ist wahrscheinlich der Krisenherd.“
Eindämmung des Wildtiermarktes ausgeblieben
Die Warnungen wurden nicht gehört. Auch nach der Sars-Epidemie 2002/2003 blühte der Wildtierhandel im Land weiter. Wie bei Sars wird auch bei Covid-19 davon ausgegangen, dass der Erreger auf einem Wildtiermarkt auf den Menschen übersprang. Als Ursprungsort gilt ein Markt in Wuhan, auf dem exotische Tiere zum Verzehr verkauft wurden. Welche Tierart als Zwischenwirt zwischen Fledermaus und Mensch fungierte, ist bisher unklar. Ein direkter Übergang von Fledermäusen auf den Menschen gilt als unwahrscheinlich.
Vertuschung der Gefahr durch die Regierung
Frühe Warnungen von Ärzten, die schon im Dezember 2019 Übertragungen einer neuartigen Lungenkrankheit von Mensch zu Mensch beobachtet hatten, wurden in den Wind geschlagen. Ärzte wie der Anfang des Monats selbst an der Lungenkrankheit gestorbene Li Wenliang wurden mundtot gemacht. Wochenlang wurde abgewiegelt. Erst am 20. Januar wurde offiziell eingeräumt, dass das Virus zwischen Menschen übertragen werden kann. Viel zu spät, was maßgeblich zum großen Ausmaß der Epidemie beigetragen hat. Die anfängliche Vertuschung und langsame Reaktion lokaler Behörden hat scharfe Kritik ausgelöst - jetzt scheint auch Staats- und Parteichef Xi Jinping unter Druck geraten zu sein. Das Milliardenvolk fragt sich, wer von den Verantwortlichen was und vor allem wann schon gewusst hat - und warum zunächst trotzdem nichts geschah. Solche Fragen könnten Xi Jinping gefährlich werden.
Xi Jinping schreibt die Geschehnisse neu
Der Präsident ging in die Offensive. Eine Rede wurde veröffentlicht, die demonstrieren soll, dass er sich schon zwei Wochen früher als bisher bekannt in den Kampf gegen die Epidemie eingeschaltete. Schon auf einer Sitzung des Politbüros am 7. Januar habe er „Forderungen zu den Bemühungen zur Vorbeugung und Kontrolle gestellt“, so Jinping darin. Im Ton ungewöhnlich defensiv erklärt er: „Ich habe jederzeit die Ausbreitung der Epidemie und die Bemühungen zur Eindämmung verfolgt, ständig mündliche Aufträge und auch Anweisungen erteilt.“ Am 22. Januar habe er dann die Abschottung der Krisenregion in der Provinz Hubei verfügt.
„Um zu vermeiden, dass die Führung oder das politische System Schaden nehmen, kommuniziert man, Xi Jinping habe sich von Anfang an persönlich eingesetzt“, ist Nis Grünberg vom China-Institut Merics in Berlin überzeugt. „Es ist zum Schutz Xi Jinpings, und gleichzeitig eine versteckte Warnung, die Befehle der Zentralregierung ernst zu nehmen.“ Die Strategie ist allerdings auch riskant. „Man scheint zu kalkulieren, dass der Legitimitätsschaden durch den Vorwurf, nichts getan zu haben, größer ist als der Schaden, den eine wirkungslose Weisung Xi Jinpings an seine Kader mit sich bringt.“
Politisches System zu starr für Reaktion
In der Folge feuerte der Präsident die Parteichefs der Provinz Hubei und ihrer Hauptstadt Wuhan sowie Funktionäre der Gesundheitsbehörden. „Es ist ganz klar, dass gezielt versucht wird, der Provinzregierung die Schuld zuzuschieben“, sagt Grünberg. Nicht ganz unberechtigt. Aber der Experte sieht auch „Schwachpunkte im System, die eine schnelle und wirkungsvolle Reaktion erschweren“. Er nennt die strenge Informationskontrolle und die Zensur, die frühe Warnungen aus Krankenhäusern und Labors unterdrückten. Auch mangele es am Austausch zwischen Behörden. Hinzu komme der Reflex der Sicherheitsbehörden, „alles unter politischen Stabilitätsgesichtspunkten zu sehen“. Es bleibt die für Xi Jinping nicht ungefährliche Frage, ob er Anfang Januar nicht hätte schon mehr tun können, wenn er sich da schon der Gefahr bewusst gewesen ist, wie es jetzt heißt. Immerhin gilt er als der mächtigste Führer seit Staatsgründer Mao Tsetung.
Hohe Dunkelziffer erwartet
Insgesamt sind in China nach den offiziellen Angaben bislang 74 576 Menschen an der Lungenkrankheit Covid-19 erkrankt. Experten gehen jedoch von einer hohen Dunkelziffer aus. Trotz der rückläufigen Zahlen warnte ein führender chinesischer Wissenschaftler davor, dass das Coronavirus zu einer etablierten Krankheit wie die Influenza-Grippe werden könnte. „Das neue Coronavirus könnte zu einer Langzeitkrankheit werde, die genau wie die Grippe mit dem Menschen koexistiert“, sagte Wang Chen, Präsident der China Academy of Medical Science, am Mittwoch im chinesischen Staatsfernsehen.
Lage außerhalb Chinas
Außerhalb des chinesischen Festlands wurden bislang rund 1000 Infektionen mit Sars-CoV-2 nachgewiesen, 16 davon in Deutschland. In Hongkong gab es örtlichen Medienberichten zufolge einen sechsten, offiziell noch unbestätigten Todesfall durch die Covid-19 genannte Lungenkrankheit. Frankreich, die Philippinen und Japan hatten bereits je einen Todesfall registriert. Die iranische Nachrichtenagentur Mehr meldete am Mittwochabend zwei Todesfälle in dem Land. Wenige Stunden zuvor hatte ein Sprecher des iranischen Gesundheitsministeriums überhaupt erst die ersten bekannt gegeben. Zuvor hatte der Iran Berichte und Gerüchte über solche Infektionen vehement zurückgewiesen.
Russland verhängt aus Sorge vor einer Einschleppung von Covid-19 eine Einreisesperre für Chinesen. Betroffen seien alle Einreisen zum Arbeiten oder für touristische und Studienzwecke, heißt es in einer Verfügung von Regierungschef Michail Mischustin. Russische Medien bezeichneten den ungewöhnlichen Schritt eines solchen "Totalverbots" am Mittwoch als beispiellos. Das Verbot gilt nur für chinesische Staatsbürger, nicht für andere aus China kommende Reisende, wie die Zeitung "Kommersant" berichtete. Allein 2019 reisten demnach 2,3 Millionen Chinesen nach Russland ein.
Kritik: Kreuzfahrtschiff „Diamond Princess“ als Inkubator
Zwei mit dem neuartigen Coronavirus Sars-CoV-2 infizierte Passagiere von Bord des Kreuzfahrtschiffes „Diamond Princess“ in Japan starben. Unterdessen ging die Ausschiffung der Passagiere in Yokohama weiter. Bis zum Vortag waren 621 Infektionen unter den Menschen an Bord nachgewiesen worden. Alle Betroffenen kamen in Krankenhäuser.
Kritische Stimmen gibt es zur Entscheidung Japans nach einem Sars-CoV-2-Nachweis bei einem Passagier der „Diamond Princess“, die anfangs 3700 Passagiere und Crewmitglieder für zwei Wochen auf dem Schiff in Quarantäne zu lassen. Offenbar könne sich ein Kreuzfahrtschiff unter solchen Umständen als Inkubator für Infektionen erweisen, sagte Peter Walger von der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene. Wie die Fachgesellschaft mitteilte, hält sie es für „unmöglich“, in der Quarantäne auf einem Kreuzfahrtschiff Hygienebedingungen zu gewährleisten, die eine Übertragung des Erregers auf weitere Passagiere und Crewmitglieder sicher ausschließen. Spezielle Filter in der Raumlufttechnik zum Beispiel, die Krankheitserreger zurückhalten könnten, gebe es auf Kreuzfahrtschiffen nicht, so Walger. Auf der „Diamond Princess“ waren auch zehn Deutsche zu Gast, mindestens zwei von ihnen hatten sich infiziert. Man bemühe sich intensiv darum, den nicht erkrankten Deutschen, die heimkehren möchten, eine baldige Rückkehr nach Deutschland zu ermöglichen, hieß es am Mittwoch vom Auswärtigen Amt.
Neues Diagnoseverfahren verschleiert Fallzahlen
Die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus ist in China nach offiziellen Angaben auf den tiefsten Stand seit Wochen gefallen - allerdings dank einer erneut geänderten Zählweise. Sie sorgt für Verwirrung. Wie die Gesundheitskommission in Peking mitteilte, ging die Zahl neu bestätigter Infektionen auf 394 Fälle zurück, nachdem es am Vortag noch 1749 gewesen waren. Die Zahl neuer Todesopfer wurde mit 114 angegeben. Wie aus einem am Mittwoch veröffentlichen Papier der Gesundheitskommission hervorging, sollen klinische Diagnosen nicht mehr als offiziell bestätige Fälle in die Statistik einfließen.
Die besonders betroffene Provinz Hubei, wo das Virus ursprünglich in der Millionenstadt Wuhan ausgebrochen war, hatte vergangene Woche damit begonnen, auch solche Diagnosen zu zählen, die auf einer Kombination von Faktoren wie etwa Lungenbildern und dem körperlichen Zustand beruhen. Nun sollen auch dort wieder nur Labortests maßgeblich sein, die aber laut Experten in der Vergangenheit auch offensichtliche Erkrankungen nicht immer gleich erkannt haben.





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