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Prozess um PatiententötungenLebenslange Haft für Ex-Krankenpfleger

Das Landgericht im niedersächsischen Oldenburg hat einen früheren Krankenpfleger des Klinikums Delmenhorst wegen zweifachen Mordes, zweifachen Mordversuchs und gefährlicher Körperverletzung zu lebenslanger Haft verurteilt.

Ein früherer Krankenpfleger muss wegen Mordes an Patienten lebenslang ins Gefängnis. Das Landgericht im niedersächsischen Oldenburg verurteilte den 38 Jahre alten Niels H. am Donnerstag wegen zweifachen Mordes, zweifachen Mordversuchs und gefährlicher Körperverletzung. Die zuständige Strafkammer stellte eine besondere Schwere der Schuld fest, eine Entlassung nach 15 Jahren Haft wurde damit ausgeschlossen. Außerdem verhängte sie gegen den Pfleger ein Berufsverbot.

Spitze des Eisbergs?
Der 38-Jährige war in dem Verfahren wegen dreifachen Mords und zweifachen Mordversuchs an Patienten auf der Intensivstation des Klinikums Delmenhorst angeklagt. Einem psychiatrischen Gutachter gegenüber räumte der frühere Krankenpfleger ein, 90 Patienten eigenmächtig ein Herzmedikament gespritzt zu haben. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft löste der Angeklagte die tödlichen Notfälle aus, um zu beweisen, wie gut er Patienten wiederbeleben kann. Später habe er aus Langeweile mit dem Leben der Kranken gespielt. Dem Gutachter sagte der Angeklagte, sein Handeln sei nicht entschuldbar. Er sei sich bewusst, dass er den Angehörigen großes Leid zugefügt habe. In dem Gespräch sagte er aber auch, dass er sich an die Taten nicht vollständig erinnern könne. An anderen Arbeitsstätten will der Angeklagte den Angaben zufolge Patienten jedoch keinen Schaden zugefügt haben. Die drei Todesfälle in Delmenhorst, für die der Ex-Pfleger jetzt verurteilt worden ist, sind aber vermutlich nur die Spitze des Eisbergs. Insgesamt prüfen Ermittler noch eine weitaus größere Zahl möglicher Taten: Mehr als 200 Todesfälle an den früheren Arbeitsstätten des Pflegers in Delmenhorst, Oldenburg und Wilhelmshaven nimmt eine Sonderkommission der Polizei unter die Lupe. Im März wollen die Ermittler acht Leichen exhumieren. Weitere könnten folgen.

In der Intensivstation von Kollegin ertappt
Während der Dienstzeiten und unmittelbar danach begannen sich die Todesfälle zu häufen. Ein Ende nahm die Serie erst, als eine Kollegin den Pfleger im Sommer 2005 auf frischer Tat ertappte. Das Landgericht Oldenburg verurteilte ihn im Dezember 2008 wegen Mordversuchs zu siebeneinhalb Jahren Haft. Damals schon gab es Hinweise, dass das Ausmaß der Taten viel größer sein könnte. Eine Sonderkommission der Polizei ging zwischenzeitlich zahlreichen Verdachtsfällen nach - auch an früheren und späteren Arbeitsstätten des Pflegers in Wilhelmshaven und Oldenburg. Das Klinikum in Oldenburg hatte im vergangenen Jahr einen Experten den Tod von Patienten während der Dienstzeit des Pflegers untersuchen lassen. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass zwölf Patienten möglicherweise nicht auf natürliche Weise gestorben waren.

Was Kliniken tun (können)
Die Serien von Patiententötungen warfen immer wieder die Frage auf, warum solche Serientaten nicht früher erkannt wurden und welche organisatorischen Vorkehrungen Kliniken ergreifen können. Es sind Fragen, die auch Kliniken umtreiben. Seit April 2014 ist das interne Melden von Beinahe-Unfällen über das CIRS-System für Kliniken in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben.

Viele Kliniken, vor allem von Skandalen betroffene, haben als Reaktion auf Fälle von Patiententötungen in jüngster Zeit ihre Melde- oder Frühwarnsysteme überarbeitet oder ausgebaut. Damit soll es "Whistleblowern" (sinngemäße Übersetzung: Tippgeber) einfacher zu machen, die auf mögliche Straffälle hinweisen wollen. Zu diesen Kliniken zählen etwa die Berliner Charité oder das Klinikum Oldenburg, wo Niels H. nach seiner Entlassung in Delmenhorst tätig war. In Oldenburg etwa werden heute etwa Kalium-Infusionen blau eingefärbt, um sie keinesfalls mit den harmlosen Kochsalzlösungen zu verwechseln. Am Klinikum in Delmenhorst ist das interne Check-System um spezielle Todesfall-Prüfungen erweitert worden. Weitere Maßnahmen sind den Angaben des Klinikum-Anwalts zufolge in Planung.

"Whistleblowing"-System in Oldenburg
"Wir haben CIRS schon seit einigen Jahren, daneben mehrere weitere interne Sicherungssysteme. Außerdem arbeiten wir derzeit an einem Whistleblowing-System, das ab April an den Start soll", sagt der Oldenburger Klinik-Geschäftsführer Dirk Tenzer. "Damit wollen wir die Hemmschwelle weiter senken, Missstände anonym zu melden." Ein von der Geschäftsführung unabhängiger Klinik-Beauftragter soll den Vorwürfen nachgehen - auch in anonymem Austausch mit den Whistleblowern. "Weil unsere Teams in der Klinik eng zusammenarbeiten, ist es oft sehr schwierig, Vorwürfe laut zu äußern und dennoch vertrauensvoll zusammenzuarbeiten." In Oldenburg habe man gute Erfahrungen mit den internen Sicherungssystemen gemacht, sagt Tenzer: "Oft geht es dabei darum, dass das falsche Medikament im Töpfchen gelandet ist." Aber manchmal würden in der Folge auch komplette Strukturen umgekrempelt - etwa Abläufe der Notfallbehandlung.

Patienten können sich zudem schriftlich oder auch mündlich via Fürsprecher über ihre Behandlungen äußern - und dabei Missstände benennen. Kriminelle Energie und vorsätzliche Schädigungen lassen sich auch mit Whistleblower-Systemen nicht immer verhindern, aber zumindest öfter erkennbar machen. Hier können laut Jürgensen zudem statistische Erfassungen von Komplikationen und Todesfällen als eine Art Frühwarnsystem helfen. Deshalb vergleicht die Charité ihre Ergebnisse transparent mit anderen Kliniken, die sich in der Initiative Qualitätsmedizin zusammengeschlossenen haben.

Charité: Lernen aus der Reputationskrise
Die Berliner Charité etwa, die heute in Rankings zur Patientensicherheit sehr gut dasteht, durchlief vor acht Jahren eine Reputationskrise: Auch hier hatte eine Krankenschwester in den Jahren 2005 und 2006 fünf schwerstkranken Patienten Medikamente verabreicht, die zum Tod führten. Weder die Kranken noch Angehörige hatten um Sterbehilfe gebeten.

Mögliche frühe Indizien durch das Pflegepersonal seien damals nicht zu einem Gesamtbild zusammengetragen worden, resümiert Jan-Steffen Jürgensen, der heutige Leiter des klinischen Qualitäts- und Risikomanagements der Charité. Mit fatalen Folgen: Bis die Zusammenhänge klar waren, brachte die Schwester drei weitere Patienten um. Das Urteil lautete auf Mord und lebenslange Haft. In der Begründung fand sich auch eine ungewöhnlich harsche Kritik am Klinikum.

Heute gibt es an der Charité mehrere Frühwarnsysteme, die Ärzte, Pflegepersonal, Mitarbeiter und Patienten bei Missständen nutzen können - auch anonym. Eine dieser "Hotlines", das sogenannte Vertrauenstelefon, ist direkt ein Ergebnis des Skandals von 2007. Die Leitung führt zu einem Rechtsanwalt, der sich das Anliegen von Klinik-Mitarbeitern anhört. "Dieses Angebot wird rund zwei bis dreimal im Jahr genutzt", berichtet Jürgensen.

Einmal befürchtete ein Pfleger die Misshandlung eines Kindes. Denn er hatte den Jungen nach einer Operation im Aufwachraum mit einer Wunde am After gesehen. "Wir konnten diesen Vorfall schnell aufklären", sagt Jürgensen. "Der Junge hatte sich auf einer Holzschaukel einen Splitter in den Po gerammt. Bei der Operation ging es darum, einen Abszess zu beseitigen." Dennoch sei die Reaktion des Pflegers richtig gewesen - und von der Klinik gewollt.

CIRS plus "Vertrauenstelefon"
Für Mitarbeiter gibt es neben dem Vertrauenstelefon die Möglichkeit, durch anonymisierte Mails kritische Vorfälle zu melden. Auch das Critical Incident Reporting System (CIRS), ein anonymes Meldesystem für Beinahe-Fehler, übernommen aus der Luftfahrt, hilft bei der Erkennung von Risiken im Behandlungsverlauf. Wie viele Meldungen via CIRS bundesweit bisher gesammelt wurden, ist laut Deutscher Krankenhausgesellschaft jedoch nicht bekannt. Und zum Aufdecken unlauterer und krimineller Vorfälle sei CIRS auch nicht in erster Linie gedacht, hieß es dort.

In der Charité laufen heute rund 400 CIRS-Meldungen pro Jahr ein. Manchmal hat das ganz praktische Auswirkungen, um Behandlungsfehlern vorzubeugen. So spritzte ein Arzt einem Patienten mit Magensonde beinahe ein Medikament versehentlich in einen Venenkatheter, statt ihm die Flüssigkeit korrekt über die Sonde zu verabreichen - was lebensgefährlich hätte werden können. Seitdem haben Spritzen für den oralen Gebrauch in der Charité eine andere Farbe und passen zusätzlich nicht mehr auf Venenkatheter.

Patiententötungen – die aktuellsten Fälle
In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle von Patiententötungen in Krankenhäusern. Hier eine Übersicht über die drei Aufsehen erregendsten:

2014: Am Münchner Uni-Klinikum wird im Juli eine Hebamme wegen Mordversuchs im Kreißsaal verhaftet. Bei Kaiserschnittgeburten soll sie viermal versucht haben, Frauen mit blutverdünnenden Mitteln zu töten.

2010: Wegen Mordes und Mordversuchs verurteilt das Landgericht Dresden eine Krankenschwester zu lebenslanger Haft. Die 33-Jährige tötete mehrere Menschen mit zu hoch dosiertem Insulin.

2007: Wegen fünffachen Mordes an schwer kranken Patienten wird eine ehemalige Krankenschwester der Berliner Charité zu lebenslanger Haft verurteilt. Die 55-Jährige brachte ihre Opfer mit Medikamenten um.

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