
Oberstes Ziel der Bundesregierung ist es, die Ausweitung der Corona-Krise zu verlangsamen. Schätzungen gehen davon aus, dass sich insgesamt rund 70 Prozent der Deutschen mit dem Coronavirus infizieren werden. Prof. Dr. Markus Scholz vom Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie forscht zu infektionsepidemiologischen Modellen von Erkrankungen. Er beantwortet die Fragen, wie solch‘ ein mathematisches Modell funktioniert und wie verlässlich diese Berechnungen sind.
Inzwischen sind in allen Bundesländern Infektionsfälle mit dem neuen Coronavirus bestätigt worden. Man geht davon aus, dass sich etwa zwei Drittel der Deutschen mit dem Coronavirus anstecken werden. Halten Sie die Zahl bei einer Nettoreproduktionsrate von drei für realistisch?
Diese Zahlen korrespondieren direkt miteinander. Unter der Nettobasisproduktionsrate versteht man die mittlere Anzahl an Personen, die zu Beginn einer Epidemie durch einen Infizierten angesteckt werden. Mit vereinfachenden Modellannahmen kann man daraus grob abschätzen, welcher Anteil der Population im Laufe der Epidemie infiziert wird. Dieser ist nicht hundertprozentig, da aufgrund der steigenden Zahl von immunisierten und infizierten Personen die effektive Ansteckungsrate immer kleiner wird. Wenn diese effektive Rate kleiner als eins wird, so sinkt die Zahl der Infizierten stetig, das heißt die Erkrankung stirbt aus.
Bei einer Nettobasisproduktionsrate von drei wäre dies der Fall, wenn zwei Drittel der Bevölkerung infiziert oder immunisiert wäre. Für einen Wert von zwei wäre dies der Fall, wenn die Hälfte der Bevölkerung infiziert oder immunisiert wäre und so weiter. Aktuell geht man bei Covid-19 von einer Nettobasisproduktionsrate von etwas unter drei aus, so dass die angegebene Größenordnung schon in etwa zutreffend ist. Es handelt sich hierbei jedoch um eine stark vereinfachte Abschätzung, die viele Faktoren wie zum Beispiel Bevölkerungsdynamiken, Interventionsmaßnahmen, Dauer der Immunisierung oder mögliche Veränderungen des Virus unberücksichtigt lassen.
Wie kann man die Wege von Pandemien berechnen? Wie funktioniert ein Modell?
Dies erfolgt mittels mathematischer Modelle, die grundlegende Mechanismen der Pandemie abbilden. Eines dieser Modelle beschreibt die zeitliche Entwicklung von Infizierten, noch nicht Infizierten und bereits Immunisierten sowie Übergänge zwischen den Gruppen und je nach Komplexität weitere Faktoren, die einen Einfluss auf den Verlauf haben, wie zum Beispiel Impfprogramme, unterschiedliche Kontakthäufigkeiten zwischen Bevölkerungsgruppen sowie die Demografie. Jedoch sind stets Vereinfachungen zu treffen, da die gesamte Komplexität der Interaktion von Personen untereinander sowie der Übertragung nicht Eins zu Eins abbildbar sind. Um solche Modelle zu entwickeln, werden vor allem umfangreiche Daten zur zeitlichen Dynamik der Pandemie benötigt. Hierzu sind längerfristige Beobachtungen erforderlich. Des Weiteren werden je nach Komplexität des Modells beispielsweise auch soziologische Parameter benötigt, wie die Kontakthäufigkeiten unterschiedlicher Altersgruppen und die demografische Verteilung.
Wie genau sind die Vorhersagen und welche Probleme gibt es bei der Berechnung?
Die Genauigkeit der Vorhersagen richtet sich zum einen nach der Qualität des Modells, ob dieses die wesentlichen dynamischen Zusammenhänge richtig widerspiegelt. Man muss dazu die Übertragungswege kennen und den Ablauf der Erkrankung verstehen. Zum anderen hängt die Genauigkeit der Vorhersage stark von der Genauigkeit der Modellparameter ab. Diese müssen aus umfangreichen Daten und teilweise langfristigen Beobachtungen geschätzt werden. Da diese bei Covid-19 noch nicht in dem benötigten Umfang vorliegen, ist es zurzeit sehr schwierig, die weitere Dynamik der Epidemie zu prognostizieren. Die Simulation dieser Modelle ist teilweise sehr rechenaufwendig, insbesondere wenn die demographische Struktur der Bevölkerung und entsprechend unterschiedliche Kontaktgewohnheiten mitberücksichtigt wird. Es müssen dann mitunter mehrere tausend Gleichungen parallel gelöst werden.


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