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Kinder-ECHO "Zukunft"Sozial benachteiligte Kinder zeigen hohe Sozialkompetenz

Kinder, die sozial benachteiligt sind, zeigen trotz ihrer Situation eine ausgeprägte soziale Einstellung.

Das ist ein zentraler Befund des Kinder-ECHOs, einer repräsentativen Meinungsumfrage bei Sechs- bis Zwölfjährigen durch das Jugendforschungsinstitut iconkids & youth im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung. Für die Umfrage wurden mehr als 700 Kinder zu ihren Zukunftserwartungen, -wünschen und -ängsten befragt. Im Vergleich zu ihren "privilegierten" Altersgenossen legen benachteiligte Kinder mehr Wert auf ideelle Aspekte. Zudem zeigt die Studie die besondere Wichtigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen im Familien- und Freundeskreis sozial benachteiligter Kinder auf.

Bedürfnis nach starken sozialen Bindungen
Die Kinder haben mehrheitlich eine positive Vorstellung von ihrer Zukunft - und zwar unabhängig vom sozialen Milieu, in dem sie leben: Auf die Frage "Stellst Du Dir das später schön vor, wenn Du erwachsen bist?" antworteten 81 Prozent der sozial benachteiligten und 86 Prozent der nicht benachteiligten Kinder mit "Ja". Dennoch spiegeln die Erwartungen und Ängste, die Kinder mit ihrer Zukunft verbinden, deutlich ihre soziale Herkunft wider. Obwohl benachteiligte genauso positiv in die Zukunft blicken wie Kinder aus gut situierten Elternhäusern, machen sie sich insgesamt deutlich mehr Sorgen. Das gilt vor allem mit Blick auf elementare Grundbedürfnisse sowie das mögliche Wegbrechen sozialer Bindungsstrukturen: So äußern benachteiligte Kinder im Vergleich zu privilegierten deutlich stärker die Sorgen "dass ich wenig Geld habe" (49 zu 40 Prozent) und "dass ich nicht genug zu essen habe" (29 zu 15 Prozent).

Auch die Sorge "dass ich von Eltern/ Freunden wegziehen muss" (54 zu 40 Prozent) und "dass meine Eltern krank werden" (43 zu 28 Prozent) ist bei sozial benachteiligten Kindern deutlich stärker ausgeprägt. Professor Dr. Holger Ziegler von der Fakultät für Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld interpretiert das wie folgt: "Benachteiligte Kinder sind häufiger Belastungen ausgesetzt, die sich negativ auf ihr Familien- und Beziehungsleben auswirken können. Daher zeigen sie größere Angst, dass die für sie wichtigen belastbaren Bindungen wegbrechen könnten." Der Sozialwissenschaftler hat die Untersuchung wissenschaftlich begleitet. "Wo Kompensation, zum Beispiel über Konsum, nicht möglich ist, gewinnt ein stabiler Ordnungsrahmen immens an Bedeutung. Funktionierende Familienverbände und andere soziale Bindungen können in diesem Zusammenhang nicht hoch genug eingeschätzt werden."

Potenzial für die Gesellschaft
Ein besonders bemerkenswertes Ergebnis des Kinder-ECHOs sind die Aussagen der Sechs- bis Zwölfjährigen zu ihren Zukunftswünschen. Zwar sind auch den benachteiligten Kindern materielle Werte wichtig, darunter "viel Geld" (52 zu 54 Prozent), ein "großes Haus" (55 zu 47 Prozent), ein "toller Beruf" (28 zu 39 Prozent) oder ein "tolles Auto" (27 zu 34 Prozent). Zugleich zeigen sie aber auch ein hohes Maß an sozialer Verantwortung. Den Wunsch, in Zukunft "anderen Menschen zu helfen", nannten sie mehr als doppelt so häufig (18 zu 7 Prozent) wie privilegierte Jungen und Mädchen. "Obwohl die gesellschaftliche Wahrnehmung oft anders ist, verfügen benachteiligte Kinder über einen ausgeprägten Altruismus und eine pro-soziale Orientierung.

Da materielle Dinge in ihrer persönlichen Lebenswelt weniger zugänglich sind, wenden sie sich stark ideellen Werten zu", erklärt Professor Ziegler. Für ihn zeigt sich in diesem Ergebnis eine besondere gesellschaftliche Relevanz: "Benachteiligte Kinder besitzen noch ihr volles soziales Potenzial. Die zentrale Frage muss daher lauten: Was kann die Gesellschaft unternehmen, um dieses Potenzial zu bewahren und zu entfalten?"

Keine Angst vor Verantwortung
Interessante Einblicke liefern auch die Vorstellungen der Kinder, was in ihrer Zukunft schön sein wird und was nicht. Im Vordergrund der positiven Erwartungen stehen "Selbstständigkeit/Unabhängigkeit" (61 Prozent), "Beruf und Geld" (57 Prozent) sowie "Familie" und "Wohnen" (27 und 24 Prozent). Dabei ist der Wunsch nach persönlicher Unabhängigkeit, die vor allem mit Attributen wie "keine Vorschriften bekommen" und "länger aufbleiben dürfen" verbunden wird, bei benachteiligten Kindern weniger ausgeprägt als bei privilegierten (51 zu 62 Prozent). Gleichzeitig haben benachteiligte Kinder vergleichsweise weniger Bedenken, zukünftig selbst Verantwortung zu übernehmen und Verpflichtungen nachkommen zu müssen (28 zu 37 Prozent); dies könnte ein Indiz dafür sein, dass sie selbst früher in die Pflicht genommen werden als ihre behüteten Altersgenossen.

Dieses Verantwortungsbewusstsein und das Bedürfnis, sich zwischenmenschlich zu engagieren, ist auch an den geäußerten Berufswünschen zu erkennen: Lehrer sein zählt zu den Traumberufen benachteiligter Kinder (elf Prozent). "Dieses Ergebnis überrascht zunächst, da die Schulerfahrungen benachteiligter Kinder sehr oft keine Erfolgsgeschichten sind. Trotzdem nimmt der Lehrer oder die Lehrerin für viele Kinder dieses Alters die Rolle einer stabilen sozialen Bezugsperson ein und hat eine Vorbildfunktion", beurteilt Ziegler die Antworten der Kinder. Vor allem aber legen diese Ergebnisse des Kinder-ECHOs nahe, dass Kinder das Leben von Erwachsenen sowohl mit Freiheits- als auch mit Verantwortungsaspekten in Beziehung setzen. Dabei betonen Kinder aus benachteiligten Milieus den Freiheitsaspekt weniger stark und den Aspekt der sozialen Verantwortung stärker als Kinder aus eher privilegierten Milieus. Dieser überraschende Befund deckt sich mit Sozialforschungsergebnissen aus Großbritannien.

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