Patienten werden im Minutentakt durch die Sprechzimmer geschleust. Oft werden sie einbestellt. Viele suchen den Arzt aber auch aus freien Stücken auf - und das unnötig häufig. Die Zahl der Arztbesuche ist auf diese Weise auf die Rekordmarke von 18,1 pro Jahr geklettert. Weniger als die Hälfte ist in anderen EU-Ländern normal. Im Schnitt bleiben nur acht Minuten beim Mediziner. Die Arztbesuche haben trotz aller Gesundheitsreformen zugenommen - gleichwohl steht der Praxisstress auf der Reformagenda der Koalition nicht oben an.
Das würde sich der Barmer GEK-Vizechef Rolf-Ulrich Schlenker anders wünschen. "Wir wollen uns nicht abfinden mit der (hohen) Zahl der Arztkontakte", sagt Schlenker am Dienstag bei der Vorstellung des neuen Arztreports seiner Kasse. Im Schnitt habe jeder Arzt 224 Patienten pro Woche in seinem Sprechzimmer. Das zeugt für Schlenker zwar davon, dass die Leute schnellen Zugang zum Arzt bekommen. Doch er sagt auch: "Das Ganze riecht sehr stark danach, dass man eine stärkere Steuerung braucht."
Das ständige Rein und Raus im Sprechzimmer könnte nach Ansicht der Autoren vom Forschungsinstitut ISEG in Hannover vermindert werden, wenn die Praxisgebühr deutlich erhöht würde. Die Menschen könnten auch verpflichtet werden, immer zuerst zu ihrem Hausarzt zu gehen. "Deutschland hat eine sehr kleine Schwelle zum Arztbesuch", sagt ISEG-Chef Friedrich-Wilhelm Schwartz. Doch entsprechende Schritte wären wenig populär und würden die freie Arztwahl einschränken. Neue Zwangsregeln sind also nicht geplant.
Doch steckt der Fehler manchmal ganz woanders. Ein Berliner Asthmatiker zum Beispiel wurde bei einem Lungenfacharzt bei zwei Terminen zweimal durch eine mannshohe Maschine zur Messung der Lungenfunktionen geschleust. Dabei hatte sein Hausarzt diese Werte bereits gemessen. Beim anschließenden Fünf-Minuten-Gespräch riet der Mediziner zu einer aufwendigen Behandlung der zugrundeliegenden Allergien. Skeptisch geworden suchte der Mann einen anderen Spezialisten auf. Der nahm sich eine Viertelstunde Zeit, um die Krankengeschichte zu erfragen - und riet von der Allergiebehandlung in diesem Fall als sinnlos ab.
Beispiel Schweden: Hier gehen die Menschen nur knapp dreimal pro Jahr zum Arzt. Pflegekräfte sind oft die ersten Ansprechpartner. Bei Älteren machen sie Hausbesuche, verordnen auch Medikamente und verweisen die Patienten bei Bedarf an Allgemeinärzte oder Krankenhäuser. Auch in Deutschland könnten etwa Krankenschwestern eine größere Rolle gerade bei der Versorgung älterer Menschen spielen. Das steckt jedoch noch in den Anfängen. Zwischen Kliniken und niedergelassenen Fachärzten herrscht heftige Konkurrenz um Patienten, deren Behandlung Geld bringt.
Deutliche Worte fand zuletzt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Wenig Effizienz, falsche Anreize, ineffektive Konkurrenz herrsche zwischen Medizinern, Kliniken und Apothekern. So sollen laut den Experten Bezahlung und Standards zwischen Kliniken und Fachärzten vereinheitlicht werden. Für Praxisärzte fordern sie Pauschalen im Voraus statt immer neues Honorar bei regelmäßigen Einbestellungen.
Tatsächlich sind Reformen bei den Ärzten, ist eine bessere Versorgung neben der geplanten Finanzreform für die Kassen ein zweites Kernprojekt von Fachminister Philipp Rösler (FDP) und der Koalition. Radikal anderes oder gar ein stärkeres Steuern haben sich Union und FDP allerdings entgegen der Expertenforderungen bislang nicht auf die Fahnen geschrieben.


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