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„Es gibt zu viel Angst“Virologe Hendrik Streeck im Interview zur Corona-Lage

Die Corona-Infektionszahlen in Deutschland steigen wieder und die Grippesaison steht vor der Tür. Der Virologe Hendrik Streeck meint: Im Sommer wurden Chancen ausgelassen, um Lösungen für Herbst und Winter zu finden.

Angst vor Corona
Pixabay
Symbolfoto

Der Bonner Virologe Hendrik Streeck hält das deutsche Gesundheitssystem für gut vorbereitet auf den Herbst und Winter in Corona-Zeiten. In den Köpfen der Deutschen sieht es seinem Empfinden nach allerdings anders aus - und das bereitet ihm Sorgen. Im Interview der Deutschen Presse-Agentur spricht er über die Verantwortung der Bürger, den vielbeschworenen «Kipppunkt» und was passiert, wenn neben dem Coronavirus auch noch die Grippe grassiert.

Frage: Inzwischen ist klar, dass Corona bei Jüngeren zumeist mild verläuft. Steigt damit das Risiko, dass immer mehr Leute bei Symptomen gar nicht erst zum Arzt gehen - etwa, weil sie keine Lust auf Quarantäne haben?

Antwort: Vorstellbar. Ich setze aber darauf, dass die Leute Verantwortung übernehmen, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Menschen. Fast jeder von uns kennt ältere Menschen oder Menschen aus Risikogruppen, für die eine Infektion gefährlich werden kann. So eine Pandemie kann man nur gemeinsam bewältigen.

Frage: Zuletzt haben wir beobachtet, dass die Zahl der Sterbefälle nicht deutlich zugenommen hat, die Infektionszahlen aber schon. Liegt das auch daran, dass sich vor allem Junge infizieren?

Antwort: Es ist vielschichtiger. Ja, es waren zuletzt die Jüngeren, die sich infizierten. Hinzu kommt aber, dass wir generell kaum schwere virale Lungenentzündungen im Sommer sehen - das gilt für alle viralen Erkrankungen. Es ist ein Phänomen, das wir kennen, ohne dass wir schon den Mechanismus dahinter verstehen. Dritter Punkt: Wir wissen zum Beispiel für die Grippe, dass eine Reduktion der Infektionsdosis mildere Symptome verursacht. Und dafür sorgen wir mit Verhaltensweisen wie Abstand und dem Tragen einer Maske.

Frage: Sie plädieren dafür, sich bei der Einschätzung der Lage nicht nur auf die Infektionszahlen zu beziehen.

Antwort: Ja. Eine asymptomatische Infektion ist ja zunächst einmal nichts Schlimmes. Die Person kann sich danach vermutlich erstmal nicht mehr infizieren und auch nicht mehr zum Infektionsgeschehen beitragen. Zudem ist es nicht auszuschließen, Langzeitfolgen zu haben. Daher finde ich es wichtig, dass wir nicht nur auf die reinen Infektionszahlen schauen. Wir dürfen sie natürlich nicht außer Acht lassen. Aber wichtiger ist, dass wir aus den Daten lernen. Die Auslastung in der stationären Behandlung und der Anteil der belegten Intensivbetten müssen meines Erachtens nach im Verhältnis mit eingerechnet werden. Anhand dieser Daten müssen wir die Schwellenwerte definieren, ab denen Maßnahmen strikter werden.

Frage: Es ist immer wieder von einem Kipppunkt die Rede, ab dem die Fallzahlen schlagartig steigen können. Gilt das auch für Deutschland?

Antwort: Dafür gibt es keine Erfahrungswerte. Den Kipppunkt haben wir noch nie gehabt. Wir hatten bislang nie einen exponentiellen Anstieg. Auch jetzt sehen wir eher einen linearen Anstieg.

Frage: Wäre es nicht dennoch ratsam, die Infektionszahlen jetzt vor der kalten Jahreszeit wieder massiv zu drücken?

Antwort: Das Virus ist ja schon Teil von unserem Alltag. Wir würden es nur mit den allerhärtesten Maßnahmen schaffen, es einzudämmen. Dann aber errichten wir eine Art künstlichen Staudamm, während es in anderen Ländern weiterläuft. Und irgendwann wird es dann auch bei uns wieder losgehen. Daher müssen wir mit Augenmaß und intelligenten Systemen - etwa Schnelltests am Eingang eines Pflegeheims - das Geschehen kontrollieren. Es kann nicht darum gehen, es komplett einzudämmen.

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