Als neulich in der Nachtwache eine demenzkranke Patientin ihr Bett zur Tür hinaus über den Flur bis zur benachbarten Station vor sich her schob, hat Christel Bienstein sie wieder ausprobiert: die beruhigende Fußwäsche. Auch dieses Mal zeigte sie Wirkung. Das warme Wasser, die massierenden Hände der Professorin - es dauerte nicht lange, bis die alte Dame sich zum Bett führen ließ, hinlegte und bis zum nächsten Morgen schlief. Christel Bienstein, Leiterin des Instituts für Pflegewissenschaft der Privaten Universität Witten/Herdecke, hat gemeinsam mit dem Sonderpädagogen Andreas Fröhlich in den 70er Jahren diese Art der Behandlung, die Basale Stimulation, auf die Pflege übertragen. Das Konzept ist leicht erklärt: Es geht darum, die Sinne anzuregen, den Patienten wieder mit der Welt um ihn herum in Verbindung zu bringen und ihm so seine Unruhe und Ängste zu nehmen.
Bienstein begleitet Nachtwachen
Mit der Welt in Verbindung - das ist Christel Bienstein in jedem Fall. So wie wohl nur wenige Akademiker in der Pflegebranche. Zurzeit begleitet die Institutsgründerin für ihr Forschungsprojekt "Die Nacht in deutschen Krankenhäusern" Nachtwachen bei der Stationsarbeit. Sie sei "wie ein Kumpel aus dem Kohlenpott", sagt der ehemalige Intensivpfleger Franz-Josef Richter aus der Geschäftsleitung von Ahr Service. Die Universität ist für Bienstein kein Elfenbeinturm: Alle Studenten aus dem bisherigen Bachelor-Programm hospitieren acht Wochen in einem Entwicklungsland wie Kenia oder Afghanistan; ihr Mitarbeiter Wilfried Schnepp, Lehrstuhlinhaber für familienorientierte und gemeindenahe Pflege, verbringt einen Teil seiner Arbeitszeit in einem Hospiz; die Juniorprofessorin Sabine Metzing hat in Hamburg zusammen mit dem DRK ein Zentrum für Kinder, die Familienangehörige pflegen, konzipiert und evaluiert. "Rund 225.000 Kinder gibt es in Deutschland, die in die Pflege eingebunden sind, da reicht ein Zentrum gar nicht. Wir wollen deshalb noch eines in Witten und an anderen Orten aufbauen." Die Pflegewissenschaftlerin, die die Norton-Skala erweitert und eine Atemskala entwickelt hat, spricht über die Forschung in ihrem Institut mit solchem Nachdruck, dass Gesprächspartner oft Lust bekommen, selbst einzusteigen. Dies erklärt wohl auch, weshalb viele ihrer Projekte so erfolgreich sind, wie die Zertifizierung angehörigenfreundlicher Intensivstationen der Stiftung Pflege, deren Vorstandsvorsitzende sie ist. Die Stiftung hat 82 Intensivstationen seit Beginn der Aktion vor drei Jahren ausgezeichnet. "Und man spürt wirklich, dass die Atmosphäre auf diesen Stationen eine andere ist", sagt die geborene Bottroperin.
Bienstein hat etwas Mitreißendes und Überzeugendes, weil zu spüren ist, dass es ihr um Patienten und deren Angehörige geht. Sie ist, wie Richter sagt, frei von Eitelkeiten. Ihr großes Herz stellt die Wissenschaftlerin nicht zur Schau. Dass sie in finanziell spärlich ausgestatteten Einrichtungen Vorträge auch ohne Honorar hält, sich Zeit für Angehörige und Patienten nimmt, die im Institut anrufen, und für Studenten und Mitarbeiter immer ein offenes Ohr hat, erzählt ihre Sekretärin Sabine Zöllner - nicht sie selbst. Eine Predigerin der Bescheidenheit ist die Krankenschwester und Pädagogin trotzdem nicht. Es regt sie auf, dass sie und ihre Kolleginnen in der Pflegeausbildung angehalten wurden, gegenüber Ärzten Kritik an Anordnungen nie direkt zu äußern. Sie sollten sie immer in eine Frage verpacken, wie etwa: "Sind Sie wirklich der Meinung, dass ?". Und sie erklärt: "Es ist doch heute noch so, dass es im Vorstellungsgespräch am besten ankommt, wenn die angehende Pflegeschülerin sagt, sie habe Sonntagsdienst gemacht, ein Herz für die Nachbarin gezeigt oder sei bei den Pfadfindern gewesen. Bei den Medizinern ist das anders, da wird gefragt: ,Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?? Diese Erziehung zur Bescheidenheit ist ein Grund, weshalb die Pflege in Deutschland so wenig Anerkennung erhält und den Pflegekräften oft die nötige Selbstsicherheit fehlt." Der andere Grund, meint Bienstein, liegt darin, dass Krankenschwestern und Pfleger sehr eng mit Akademikern zusammenarbeiten. "Sie fühlen sich dem oft nicht gewachsen und kriegen deshalb den Mund nicht auf." Eine Akademikerquote von zehn Prozent sei deshalb wichtig. "Wir brauchen rund 80.000 studierte Pflegekräfte. Mit den 62 Studiengängen an Fachhochschulen und Universitäten, so habe ich ausgerechnet, wird es 48 Jahre dauern, bis wir diesen Schnitt erreichen werden."
Studieren und wissenschaftliches Arbeiten sind für Bienstein jedoch kein Selbstzweck. Was sie und ihre Mitarbeiter erforscht haben, das soll über die Grenzen von Witten hinweg bekannt werden - und zwar so schnell wie möglich. "Wir publizieren deshalb viel in deutschen Fachzeitschriften. Eine Veröffentlichung in einem englischsprachigen Journal ist zwar prestigeträchtiger, aber es dauert oft Jahre, bis ein Artikel erscheint. Und wir möchten, dass Praktiker so schnell wie möglich von unseren Ergebnissen erfahren", sagt Bienstein. Das Institut lädt auch oft zu Vorträgen ein, um seine Ergebnisse zu präsentieren - wie kürzlich die Arbeit "Wer veranlasst, dass eine PEG gelegt wird?". Und einmal im Jahr geht die Truppe auf Tournee, um diejenigen zu erreichen, die es nicht nach Witten schaffen. Universitäre Distanziertheit ist Bienstein fremd. Das zeigt sich auch am Bachelorstudiengang Innovative Pflegepraxis, der in diesen Tagen startet. Er bietet erfahrenen Praktikern die Möglichkeit, an der Akademisierung ihrer Zunft Teil zu haben und ihr großes Erfahrungswissen theoretisch zu unterfüttern. "Die Anwesenheitspflicht beträgt insgesamt nur neun Wochen, außerdem nehmen die Studenten Themen in den Blick, die für das jeweilige Haus gerade aktuell sind - etwa Primary Nursing oder Entlassungsmanagement - und gehen in einer kleinen Gruppe mit ihren Dozenten vor Ort."
Die nächste Institutsgründung bereits im Blick
Die Nähe zu konkreten pflegerischen Problemen ist Bienstein wichtig, Verwässerung duldet sie nicht. In ihrem Institut arbeiten ausschließlich Pflegewissenschaftler. Pflegemanagement und Pflegepädagogik sind nicht vertreten. Leicht war es anfangs nicht, das Institut ausschließlich mit Pflegewissenschaftlern zu besetzen: Als Bienstein das Institut 1994 gründete, holte sie manchen Mitarbeiter aus dem Ausland - Ruth Schröck etwa aus Edinburgh und Wilfried Schnepp aus Uetrecht. Inzwischen hat die zweifache Mutter zahlreichen wissenschaftlichen Nachwuchs herangezogen. "Das sind - anders als ich - originäre Wissenschaftler mit großen wissenschaftlichen Projekten und Auslandserfahrung." An einen von ihnen möchte Bienstein in zwei oder drei Jahren die Leitung abgeben. Nicht um zu reisen und Blumen zu züchten. Nein, um ein weiteres Institut zu gründen - dieses Mal für spezifische Pflegekonzepte.


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