
Ausgerechnet der Privatsender mit dem Slogan «We love to entertain you» bringt immer öfter experimentelles Fernsehen: ProSieben hat am Mittwochabend auf Betreiben der Entertainer Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf sieben Stunden Sendezeit freigeräumt, um mit einer Doku ohne Werbeunterbrechung auf Deutschlands Pflegenotstand aufmerksam zu machen. Unter dem Motto #Nichtselbstverständlich wurde mit Hilfe einer Bodycam in Echtzeit eine Schicht der Krankenpflegerin Meike Ista im Knochenmark- und Transplantationszentrum des Universitätsklinikums Münster (UKM) gezeigt. Reaktionen darauf kamen sogar aus der Bundesregierung.
Die Visite bei den Patientinnen und Patienten war mit jedem einzelnen Arbeitsschritt zu sehen. Zuschauer erlebten unmittelbar mit, was es wirklich heißt, in der Pflege zu arbeiten. Die Sendung begann kurz nach 20.15 Uhr (dokumentiert am 18. März um 6 Uhr) - und war erst vorbei, als Ista Feierabend hatte. Das war im TV um 3.00 Uhr morgens.
Die Entscheidung, das unkonventionelle und mutige Format zu unterstützen, wurde aus der Überzeugung getroffen, dass die Pflege mehr Aufmerksamkeit braucht, so das Klinikum heute in einer Pressemitteilung. UKM-Pflegedirektor Thomas van den Hooven sei es wichtig gewesen, dem Diskurs zur Pflege damit Raum zu geben. „Pflege steht dicht an der Seite des Patienten. Wir können in unserem Beruf ganz viel erleben: Von der Geburt bis hin zur Sterbebegleitung, also in den extremen Lebenssituationen. Das kann man nicht in jedem Beruf, dazu braucht es Herz und Verstand. Die Performance des Teams auf Station war sehr gut und die der Kollegin Ista einfach extrem gut! Manchmal aufgeregt und das war gut so und gleichzeitig nahbar und professionell. Das war eine tolle Werbung für den Beruf!“, freut sich van den Hooven. „Ich wollte für das Format zeigen, wie Pflege wirklich ist“, begründet Meike Ista ihre Entscheidung.
Reaktionen aus der Politik
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bezog sich am Donnerstag bei einer Pressekonferenz in Berlin auf die Sendung, als er Gespräche mit Verbänden ankündigte, um bessere Arbeitsbedingungen in der Branche zu erreichen. «Damit nach dieser schweren Phase der Pandemie viele in dem Beruf bleiben und idealerweise zurückkehren wollen, werden wir auch zügig in Gesprächen mit den Pflegeverbänden weiter darüber beraten, wie wir auch dafür die Arbeitsbedingungen noch weiter verbessern können.» Spahn sagte zudem: «Es ist gut, dass die Pflege jetzt in der Primetime läuft. Pflegerinnen und Pfleger verdienen unseren Respekt, unser Dankeschön, aber vor allem bessere Arbeitsbedingungen.»
Schon in der Nacht hatte SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz getwittert: „Danke Joko und Klaas für diese Sendung! Und - man kann es nicht oft genug sagen - Danke an alle Pflegerinnen und Pfleger! Ohne sie geht nichts. Antwort auf diese Erkenntnis ist nicht, Beifall zu klatschen. Respekt heißt: gute Löhne und Arbeitsbedingungen.“
Unter dem Tweet von Scholz sammelte sich Kritik. Der in der Sendung vorkommende Krankenpfleger Alexander Jorde twitterte: „Ich will keine Worte mehr, ich will Taten. Die SPD ist Teil der Bundesregierung. Du bist Vizekanzler, Olaf Scholz. Worauf warten wir?“
Auf dem Twitter-Account des öffentlich-rechtlichen Kulturkanals Arte hieß es Mittwochabend: „Was da gerade bei ProSieben passiert, dürfte ein Stück deutsche TV-Geschichte sein.“ Konkurrenzsender RTL lobte: „Starke Aktion, ProSieben!“
In der Doku sagte Pfleger Jorde: „Wir können nicht sagen: Morgen machen wir mal die Klinik zu oder morgen ist die Intensivstation mal zu und wir gehen auf die Straße. Dann sterben Menschen! Das zeigt ja wieder, wie hoch unsere Verantwortung ist. Aber es begrenzt uns eben auch in unseren Möglichkeiten, unsere Interessen durchzusetzen.“
Tausende Tweets bis in den Folgetag hinein
Tausende twitterten am Abend und nachts zum Thema Pflege. Viele forderten mehr Engagement von der Politik. Tenor der Sendung war: Seit Jahrzehnten versäumten es Politik und Gesellschaft, faire Bezahlung und gut machbare Arbeitsmengen für Pflegekräfte zu organisieren. Es werde immer schlimmer.
Der Bielefelder Intensivpfleger Ralf Berning wies auf die andauernde Überbelastung hin. Er kenne Leute, die 23 Tage am Stück arbeiteten, das sei „völlig unmenschlich“. Er sei lange Soldat gewesen und ginge lieber wieder nach Afghanistan, als noch einmal so etwas Schlimmes zu erleben wie etwa während der zweiten Corona-Welle im Herbst.
Winterscheidt (42) und Heufer-Umlauf (37) behandeln in der Sendung «Joko & Klaas Live» immer wieder gesellschaftlich relevante Themen. Die Sendezeit zur ihrer freien Verfügung hatten sich die Moderatoren in der am Dienstag ausgestrahlten Show «Joko & Klaas gegen ProSieben» erspielt, in der sie in Wettkämpfen gegen ihren Arbeitgeber antreten.
Erstmals in der Geschichte der Show baten die Entertainer diesmal ProSieben, für ihren Sieg mehr Sendezeit als die sonst übliche Viertelstunde zugestanden zu bekommen. Klaas sagte zum Auftakt der Sondersendung: „Sowas stellt nämlich in so'nem Sender ein bisschen was auf den Kopf und widerspricht genau genommen jeder Regel des Fernsehens.“





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