Er brauche Hilfe, sagte der Arzt. Um einen 84-jährigen Patienten im Überwachungszimmer aufzunehmen – an den Monitor anzuschließen, einen zentralen Venenkatheter und einen Blasenkatheter zu legen. Zwei Krankenschwestern begannen zu diskutieren, ob das wirklich nötig sei; der Patient sei immerhin recht alt. Eine Kollegin stand auf und begleitete den Arzt ins Überwachungszimmer, die beiden anderen blieben sitzen, eine "unsinnige Aktion” befanden sie. Ein extremer Fall, der sich vor gut 20 Jahren in einem kleinen, inzwischen geschlossenen Krankenhaus in Norddeutschland ereignete. Damals war der Begriff "interdisziplinäre Zusammenarbeit” noch nicht in aller Munde. Heute ist er‘s. Doch das nützt nicht viel: Auch heute funktioniert die Zusammenarbeit nur dort gut, wo die ständige Gegenwart des Todes Befindlichkeiten ins Verhältnis rückt, auf der Intensivstation etwa oder der Onkologie. Wie schlecht die Zusammenarbeit im Allgemeinen ist, zeigt sich schon daran, dass kaum jemand zu beschwichtigen versucht: "Das ist ein Riesenthema, das nicht gut läuft”, sagt der Pflegedirektor der Uniklinik Hamburg-Eppendorf, Joachim Prölß. Und Markus Mai, stellvertretender Pflegedirektor im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Trier (BBT), meint: "Die beiden Berufsgruppen arbeiten meistens unkoordiniert, jeder werkelt ohne schlechtes Gewissen vor sich hin.” Ein besonders wunder Punkt scheint die Visite zu sein. "Ich kenne kein Haus, in dem Visitenstandards gut laufen”, meint die Pflegedirektorin der Uniklinik Essen, Irene Maier. Eine ehemalige Pflegedirektorin, die nicht genannt werden möchte, schätzt: Wenn Visitenstandards tatsächlich eingehalten würden, ließe sich pro Station Arbeitszeit in Höhe einer Stelle sparen. Kein Wunder also, dass Prölß zu dem Schluss kommt, die interdisziplinäre Zusammenarbeit sei ein Erfolgsfaktor für Krankenhäuser.
Das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Trier (BBT) hat Konsequenzen gezogen: Es führt jetzt in allen Abteilungen "strukturierte Runde Tische” ein, die fünf- bis sechsmal jährlich stattfinden sollen. In diesen Gesprächen analysieren Chefärzte, Stations- und Bereichsleitungen, Controller und Physiotherapeuten die Probleme der Zusammenarbeit. Der Chefarzt legt etwa dar, weshalb er in den letzten Monaten so viele Patienten aufgenommen hat. Gleichzeitig überlegt die Gruppe, wie sich Arbeitsprozesse verbessern lassen, und initiiert passende Projekte. Aber es geht auch um strategische Fragen. "Zum Beispiel auf welches Patientengut wir uns künftig konzentrieren”, sagt Markus Mai. Als Grundlage für die Diskussion erhalten alle Teilnehmer Zahlen, etwa zur Erlössituation oder zum Case-Mix-Index (CMI). Die ersten beiden Male werden externe Moderatoren die Gespräche leiten, später übernehmen interne Mitarbeiter diese Aufgabe. Sicherlich hat es bisher hier und da auch schon interdisziplinäre Zusammenkünfte gegeben, vor allem in Form von Fallbesprechungen. "Doch wir wollen sie nun institutionalisieren”, sagt Mai. Gruppendynamisches, Prozesse, Betriebswirtschaftliches – für ihre Runden Tische haben die Barmherzigen Brüder sich viel vorgenommen. Bei extrem zerrütteten Verhältnissen lohnt es sich aber, sich zunächst ganz auf das Zwischenmenschliche zu beschränken und die Berufsgruppen losgelöst vom Alltagsgeschäft zu einem moderierten Gespräch zu versammeln. "Denn was oft fehlt, ist ein Gefühl für das Selbstverständnis des anderen. Welches Bild etwa die Ärzte von der Arbeit der Pflegekräfte haben, wird viel zu selten abgeglichen mit dem, wie die Pflegenden sich selbst sehen”, meint Manuel Dolderer vom Wittener Institut für Strategie und Management. Dass ein großes Bedürfnis nach Austausch und Klarstellung besteht, erlebt Andrea Fischer, die für die TUI-Service-Akademie Trainings für Krankenhausmitarbeiter organisiert, immer wieder. "Die Pflegekräfte regen sich in unseren Seminaren regelmäßig bereits in der ersten Stunde über die Ärzte auf und umgekehrt. Die eine Berufsgruppe fühlt sich von der anderen nicht respektiert.” Das Problem scheint Fischer so drängend, dass sie jetzt ein Konzept für ein Teambuilding-Programm speziell für interdisziplinäre Zusammenarbeit entwickelt.
Manche Leitung fördert instabile Teamstrukturen
Doch bei der Psychologie allein darf es nicht bleiben. Viele Probleme der Zusammenarbeit haben organisatorische Ursachen. Andrea Fischer fallen diverse Beispiele ein, die zeigen, dass häufig klare Kommunikationswege fehlen: So kommt es immer wieder vor, dass die Pflegekräfte den Patienten morgens um 10 Uhr verabschieden wollen, doch der Entlassbrief noch nicht vorliegt. Auch fehlt oft eine klare Verantwortungshierarchie, moniert Dolderer. Dies liege auch daran, dass stabile Teams immer seltener würden. "Wegen des ökonomischen Drucks werden heute Pflegekräfte im Stundentakt hin- und hergeschoben, sobald die Auslastung einer Station unter 60 Prozent fällt. Das ist desaströs.”
Aber selbst, wenn Pflegekräfte nicht wie Spielfiguren die Station wechseln: In den Teams steigt die Unruhe über das natürlich Maß, das durch Schichtdienst und rotierende Assistenzärzte gegeben ist. Denn immer mehr Kliniken setzen Honorar- und Leiharbeitskräfte ein, auch werden die Einsatzzeiten der Pflegeschüler immer kürzer und Teilzeitstellen populärer – nur noch die Hälfte aller Pflegekräfte arbeitet heute Vollzeit. Umso dringender wird es, präzise und verbindliche Absprachen zu treffen. Sie können gar nicht detailliert genug sein. Denn nur so lassen sich wiederkehrende Diskussionen und Machtkämpfe verhindern. "Ein Beispiel ist das Thema Mobilisation”, sagt Dirk Brenner, Stationsleiter auf einer Intensivstation im UK Essen. "Wenn wir früher einen Patienten aus dem Bett holen wollten, stand immer wieder die Frage im Raum, ob wir dafür nicht eine ärztliche Anordnung brauchen. Das hielt uns sehr auf. Inzwischen haben wir uns mit den Ärzten geeinigt, dass sie es ausdrücklich anordnen, wenn ein Patient nicht das Bett verlassen darf.” Und bei der Flüssigkeitsbilanz stellte sich immer wieder die Frage, wie oft diese errechnet werden muss. Nun gibt es auf der Station einen allgemein gültigen Fahrplan und klare Kriterien für Ausnahmen. Für Brenner sind diese Übereinkünfte so selbstverständlich wie die tägliche Absprache morgens mit der Oberärztin.
"Wer macht was? Was wird wie entschieden? Das muss feststehen. Ich habe das bereits vor 20 Jahren beschlossen”, sagt Brenner. Seine Entschiedenheit sollte Ärzten recht sein. Szenen wie in der kleinen norddeutschen Klinik werden auf Brenners Station nicht passieren. Jeder weiß, was er zu tun hat. Und Ärzte auflaufen lassen – das ist bei ihm tabu. "Beide Berufsgruppen sind doch aufeinander angewiesen. Ich weiß nicht, warum das so schwer zu verstehen ist.”
Weitere Informationen zum Thema finden Sie in der Online-Ausgabe der kma 02/2013.


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