
Sie füllen mehr als 100 Seiten, und sie sind durchaus brisant – die „Empfehlungen zur künftigen Rolle der Universitätsmedizin zwischen Wissenschafts- und Gesundheitssystem“, vorgelegt vom Wissenschaftsrat. Für das hochrangige Beratungsgremium, in dem regelmäßig 24 Wissenschaftler und acht Repräsentanten des öffentlichen Lebens zusammenkommen, bleibt die Universitätsmedizin bislang unter ihren Möglichkeiten.
„Sie ist eine Einrichtung eigenen Typs mit erheblichem Potenzial für das Gesundheitssystem, das wir besser als bisher nutzen sollten“, sagt die Ratsvorsitzende Professorin Dorothea Wagner. Während der Covid-19-Pandemie habe sich erneut gezeigt, dass die Universitätsmedizin mehr sei als „ein Krankenhaus mit angelagerter Wissenschaft“. Mit Blick auf den demografischen Wandel und Volkskrankheiten wie Krebs oder Diabetes sei die Pandemie jedoch nicht die einzige und auch nicht die letzte Herausforderung für das Gesundheitssystem. Gerade deshalb müsse die künftige Rolle der Universitätsmedizin diskutiert werden.
Vierte Säule mit Koordinationsaufgaben
Die Wissenschaftler wollen sie stärker als zentrale Institution im Gesundheitssystem profilieren – und ihre Rolle deutlich erweitern. Neben den klassischen Aufgaben in Forschung, Lehre und Krankenversorgung empfehlen sie eine vierte Säule mit systemrelevanten Koordinations- und Innovationsaufgaben. Geht es nach ihnen, würde die Universitätsmedizin die Gesundheitsversorgung „in einer koordinierenden und konzeptionellen Funktion“ mitgestalten. Eine regional vernetzte Versorgung mit der Universitätsmedizin als zentralem Koordinator etwa verspreche großen Mehrwert für die Patienten, sind die Ratsmitglieder sicher.
Das Potenzial ist also da – nur genutzt wird es dem Rat zufolge nicht ausreichend. Insbesondere ökonomisch geprägte Anreizsysteme und die Sektorentrennung zwischen stationärer und ambulanter Versorgung machten es den Häusern schwer, schreiben die Wissenschaftler. In den vergangenen Jahren sei durch vielerorts real stagnierende Grundmittel und erhebliche Investitionsbedarfe in Kombination mit der schwierigen wirtschaftlichen Lage vieler Universitätsklinika zudem eine finanzielle Schieflage entstanden. Diese könne mittelfristig zu einer substanziellen Schwächung der Universitätsmedizin führen.
Zusätzliche Finanzierung aus öffentlichen Mitteln
Um das Potenzial zu nutzen, müssten sich Bund und Länder daher „Gedanken über eine dauerhafte, zusätzliche Finanzierungssäule aus öffentlichen Mitteln machen“, betont Dorothea Wagner. Das betreffe die wissenschaftlichen Aufgaben, „aber gerade auch Anpassungen bei der Vergütung der Versorgungsaufgaben“.
Als Grundlage plädieren die Wissenschaftler für ein einheitliches Verständnis der Universitätsmedizin. Ein Weg sei, ihre Rolle und Aufgaben gesetzlich zu verankern. Und genau das, so der Rat, solle das Bundesgesundheitsministerium (BMG) prüfen. Zudem könne es sinnvoll sein, die Universitätsmedizin konzeptionell als eine Einrichtung eigenen Typs zu verankern – wofür neben den betroffenen Politikfeldern Wissenschaft und Gesundheit auch die föderalen Ebenen von Bund und Ländern zusammenwirken müssten. Eine große Aufgabe.
Plädoyer für breites Fächerspektrum
Neben der neuen vierten Säule wollen die Wissenschaftler auch die drei bisherigen Aufgabenfelder zukunftssicher gestalten. Sie warnen vor einer schleichenden Verdrängung klinischer Fächer aus den Universitätsklinika – durch übermäßigen oder alleinigen Einfluss wirtschaftlicher Kriterien. Auch Fächer, die derzeit nicht ausreichend finanziert sind oder kaum ökonomische Relevanz haben, seien hochrelevant.
Ein breites Fächerspektrum sei essenziell, um wesentliche Expertise und Kompetenzen für das Gesamtsystem sicherzustellen. Auch Fächer mit hohem oder wachsendem Anteil ambulanter Patienten müssten in den Universitätsklinika gehalten werden. Eine Möglichkeit sei die Einrichtung klinischer Abteilungen mit geringen Bettenkapazitäten, aber mit auskömmlich finanzierten Hochschulambulanzen. Die Universitätsmedizin, so die Wissenschaftler, müsse zunehmend nicht-stationäre Versorgungsformen abbilden können.
Gleichzeitig sollte das fachliche Profil nach den Vorstellungen des Rates strategisch erweitert werden. Vermehrt müssten auch Versorgungsdimensionen jenseits der kurativen Medizin einbezogen werden – etwa Prävention, Rehabilitation, Pflege und Public-Health-Ansätze. Den großen Bedarf dafür habe die Pandemie deutlich gemacht.
Schlüsselrolle bei der regionalen Versorgung
Auch beim landauf, landab stark und emotional diskutierten Thema der regionalen Versorgung sieht der Rat die Universitätsmedizin in einer Schlüsselrolle. Er empfiehlt, sie mittelfristig „zu einem zentralen Akteur in regionalen Versorgungsnetzen aufzubauen“. Dafür müssten sie entsprechend mit zusätzlichen Aufgaben ausgestattet werden. Damit sich diese neue Rolle auch in der Krankenhausplanung widerspiegele, sollten die Wissenschaftsministerien nach den Vorstellungen des Rates systematisch in die Krankenhausplanung einbezogen werden.
In der veränderten regionalen Position liegt durchaus Konfliktpotenzial, konstatieren die Wissenschaftler. Da sie mit stationären und ambulanten Versorgern dadurch noch stärker um Marktanteile konkurrieren werden, müssten die Universitätsmedizinstandorte darlegen, welchen praktischen Nutzen und spezifischen Mehrwert sie für die Versorgung zu bieten haben. Zudem müsse das jeweilige Versorgungsangebot im regionalen Umfeld kritisch hinterfragt werden.
Schließlich müsse der regionale Bezug auch in Forschung und Lehre deutlich werden. Regionale Netzwerke könnten beispielsweise für eine bedarfsorientierte Aus- und Weiterbildung von Ärzten genutzt werden. Zudem müssten Erkenntnisse aus den Regionen auf das Gesamtsystem übertragen werden.





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