
Die Corona-Pandemie stellt Gesundheitssysteme weltweit vor enorme Herausforderungen.
Hierzulande gelingt die Bewältigung – trotz aller Kritik – auch deshalb vergleichsweise gut, weil unser Gesundheitswesen materiell und personell im Vergleich zu anderen Ländern sehr gut ausgestattet ist. Dies wird schon an einem einfachen Beispiel deutlich: England verfügt über 10,5 Intensivbetten pro 100 000 Einwohner (2020). Für Spanien sind es 9,7 solcher Betten (2017).
Dem steht der höchste Wert im Vergleich aller OECD-Länder von 33,9 Intensivbetten je 100 000 Einwohner (2017) in Deutschland gegenüber, die im zurückliegenden Jahr noch einmal deutlich aufgestockt werden konnten. Generell erlaubt es die wirtschaftliche Prosperität unseres Landes bisher, mehr als 11,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Gesundheitsversorgung aufzuwenden. Auch dies ist ein Spitzenwert. Dabei lässt sich natürlich darüber streiten, wieviel Gesundheit für wieviel Geld „gekauft“ werden kann. Hohe Ausgaben – das ist aus internationalen Vergleichen bekannt – sind jedenfalls kein Garant für eine adäquate, d.h. hochwertige und im Zugang auch gerechte Versorgung.
Intersektorale Zusammenarbeit kann funktionieren
Wenn zu diesem Zeitpunkt schon ein erster Rückblick auf den Umgang mit der Pandemie erlaubt ist, dann hat das System der medizinischen Versorgung in Deutschland gezeigt, dass es auch über Sektorengrenzen hinweg in einem Notfall sachgerecht funktionieren kann. Hört man die offiziellen Vertreter und Vertreterinnen der stationären und ambulanten Interessensverbände, dann ist es zwar den jeweiligen Sektoren getrennt zuzurechnen, dass die medizinische Versorgung nicht aus den Fugen geraten ist. Die Realität dürfte aber etwas anders aussehen: Es war die grundlegende Voraussetzung für eine adäquate Patientenversorgung, dass Behandlungspfade nicht an den Sektorengrenzen abgerissen sind und vor Ort Brüche gemeinsam überwunden wurden. Offensichtlich gelingt dies in der Pandemie besser als es Patientinnen und Patienten im Routinebetrieb oft erlebt haben. Es gehört also zu den ersten Einsichten des Managements der SARS-CoV-2-Pandemie, dass ein Miteinander, welches auf eine sinnvolle Behandlungssituation für individuelle Patienten fokussiert, der richtige Weg ist.
Gesundheitssystem ist das zentrale Element der Daseinsvorsorge
Diese Erkenntnis unterstreicht, dass tiefgreifende gesundheitspolitische und strukturelle Korrekturen notwendig werden. Die Pandemie hat darüber hinaus vor allem für diejenigen, die in der Gesundheitsversorgung ein wirtschaftlich unzureichendes und vermeintlich zu teures gesamtgesellschaftliches Investment sahen, verdeutlicht, dass das Gesundheitssystem ein zentrales Element der Daseinsvorsorge darstellt. Ohne diese Investition und Vorhaltung ist unser Gemeinwesen nicht existenzfähig. Umso mehr stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, die Effizienz und Effektivität zukunftssichernd zu steigern.
Die Grundbedingung hierfür bleibt der adäquate, gleichberechtigte Zugang zur Versorgung. Dies betrifft sowohl den ambulanten als auch den stationären Bereich und schließt Versorgungsfelder wie die Prävention oder die Rehabilitation mit ein. Charakteristika unserer gesellschaftlichen Entwicklung, wie der demografische und epidemiologische Wandel oder auch die Zunahme der vulnerablen Gruppen, bedürfen besonderer Berücksichtigung.
Innerhalb des Systems bedeutet dies, dass Grenzen und Hindernisse zwischen verschiedenen Versorgungsbereichen der Geschichte angehören müssen. Den Ansätzen zur Integrierten Versorgung gehört die Zukunft! Es darf nicht einzelnen Krankenhäusern oder einzelnen niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten in einer Region überlassen bleiben, wie eine barrierefreie Patientenversorgung gelingt. Und es geht auch nicht nur um eine intersektorale Zusammenarbeit, sondern vornehmlich auch um interprofessionelles Zusammenwirken. Der erste Schritt dazu – Modellprojekte ausgenommen – wären adäquate, stabile und konsistente normative Rahmenbedingungen, die den Beteiligten Sicherheit und Handlungsspielraum geben. Stattdessen finden wir bislang Stückwerk vor, von der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung über die spezialisierte ambulante Palliativversorgung bis hin zu Disease-Management- Programmen und vielem mehr. Die Pandemie unterstreicht: Dies zu konsolidieren muss eine Priorität der Politik sein. Das bedeutet nicht, dass man von der Bandbreite unterschiedlicher Ansätze – beispielsweise von netzbasierten Modellen über MVZ bis zu Selektivverträgen – generell abrücken muss. Die Konsolidierung bezieht sich auf die gesetzlichen Regelungen. 30 verschiedene Paragrafen im SGB V, die die Sektoren in ihrer Bedeutung adressieren, sind das strukturelle Hindernis für die Integrierte Versorgung.
Es braucht dringend einen Paradigmenwechsel
Derzeit kommen gesetzliche Initiativen, die die Integrierte Versorgung stärken könnten, irritierenderweise ins Stocken. So wird das Gesetz zur Reform der Notfallversorgung in der laufenden Wahlperiode voraussichtlich nicht mehr verabschiedet und auch die von der Großen Koalition ins Leben gerufenen Bund-Länder- Arbeitsgruppe „Sektorenübergreifende Versorgung“ bleibt hinter den Erwartungen zurück. Zwar gibt es Erleichterungen zu selektivvertraglichen Versorgungskonzepten im Bereich der sogenannten „Besonderen Versorgung“. Aber es fehlt unverändert die Bereitschaft zu einem Paradigmenwechsel.
Eine erfolgsversprechende Herangehensweise muss die regionale Versorgungsrealität besonders beachten. Ein Weg dazu ist das Zusammenbringen und die konsolidierte Analyse von Versorgungsdaten. In jedem Fall kann die Digitalisierung helfen, Sektorengrenzen zu überwinden. Hier ist der Beitrag digitaler Optionen für die Versorgung besonders relevant. Man darf aber nicht den Fehler machen und digitale Möglichkeiten prinzipiell mit konkreten Handlungen an und mit Patienten verrechnen: Beispielhaft sei auf hochbetagte Menschen hingewiesen, deren Betreuungsbedarf digital nicht zu decken ist. Anders verhält es sich bei chronisch Kranken oder in der Notfallversorgung. Hier ist die umfassende Verarbeitung gesundheitsbezogener Daten eine substanzielle Verbesserung in der Behandlungsrealität.
Sektorengrenzen immer noch unverändert da
Und natürlich muss die Implementierung der Integrierten Versorgung auch von unterstützenden Vergütungsstrukturen begleitet werden. Nur so wird die Bereitschaft zum Handeln einzelner Akteure zielführend beeinflusst. Die Entlohnung gehört generell zu den zentralen Verhaltensanreizen. Dies gilt es zu nutzen. Ein häufig vorgetragenes Argument, die aktuellen Vergütungsstrukturen würden die Realisierung Integrierter Versorgungskonzepte nicht erlauben, ist unsinnig. Denn ein Vergütungssystem ist kein Wert an sich. Vielmehr dient es in seiner jeweiligen Ausgestaltung dazu, die definierten Ziele durch sinnvolle Anreize zu erreichen. Im ersten Schritt muss also noch einmal festgehalten werden, welches Konzept zur optimalen intersektoralen Versorgung individueller Patienten führen kann.
Dabei sind auch die Arbeitsbedingungen für ärztliches und nicht-ärztliches Personal mitzudenken und adäquat zu adressieren. Junge Ärzte und Fachangestellte wollen etwa mehr als bisher im Team arbeiten. Weitere Kriterien ließen sich ergänzen. Die Vergütungsstruktur bildet in einem zweiten Schritt diese Ziele nach Effektivitätskriterien ab und orientiert sich dabei auch an den Interessen der professionell Handelnden. Primat sind und bleiben im Gesundheitswesen aber stets die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten.
Nach zwei Jahrzehnten mit zahllosen Ansätzen und Versuchen, die Sektorengrenzen hinter sich zu lassen muss 2021 – gerade auch mit Blick auf diese Prämisse – nüchtern festgestellt werden, dass nicht eine der Initiativen entscheidend zu einer Veränderung beigetragen hat. Die Corona-Pandemie hat nun noch einmal allen Verantwortlichen vor Augen geführt, dass eine reale Integrierte Versorgung und eine breite interprofessionelle Zusammenarbeit für die Zukunft eines erfolgreich operierenden Gesundheitswesens unabdingbar sind.
