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Deep Dive DigitalDie TI ist keine Spielwiese für Blockierer

Das deutsche Gesundheitswesen täte gut daran, die Telematikinfrastruktur (TI) nicht nur als Pflichtveranstaltung zu betrachten. Bei aller berechtigten Kritik kann die Lösung nicht in einer passiv aggressiven Blockadehaltung liegen, urteilt Dr. Peter Gocke in der neuen Digitalkolumne.  

Dr. Peter Gocke
Scott MacDonald
Peter Gocke ist seit 2017 Chief Digital Officer (CDO) der Berliner Charité. In dieser Funktion koordiniert er die digitale Transformation am größten Universitätsklinikum Europas.

Das deutsche Gesundheitswesen tut sich mit der digitalen Transformation seit vielen Jahren schwer. Entsprechende Untersuchungen weisen im europäischen Vergleich häufiger deutlich unterdurchschnittliche Bewertungen auf. In den letzten Jahren sind die Bemühungen im deutschen Gesundheitswesen aber massiv intensiviert worden. Zum einen wurde eine Patt-Situation bei der Gematik, die bei der Digitalisierung eine wesentliche Rolle einnehmen sollte, aufgelöst. Zum anderen wurden eine Reihe von Gesetzesinitiativen unternommen, mit dem eindeutigen Ziel, die Digitalisierung zielgerichtet voranzubringen.

Komplexität ist ein natürlicher Feind der erfolgreichen Digitalisierung. Und das deutsche Gesundheitswesen ist wahrlich komplex organisiert: aufgeteilt in drei Sektoren (ambulante Versorgung, stationäre Versorgung, Öffentlicher Gesundheitsdienst) und föderal organisiert mit jeweils sehr unterschiedlichen Strukturen und fehlenden Vorgaben für Interoperabilität und Schnittstellen, sind die Hemmnisse im System groß, aber auch bekannt.

Die Entwicklung der TI bleibt zäh. Häufig gibt es Kritik an der technischen Basis. 

An diesem Punkt setzen die beiden wichtigsten im Jahre 2020 begonnen Vorhaben an: zum einen hat das KHZG 4,3 Milliarden Euro für die Binnendigitalisierung von Krankenhäusern bereitgestellt, zum anderen wurde im dazugehörigen Gesetz für die Telematikinfrastruktur (TI) und ihre Kernelemente wie beispielsweise die elektronische Patientenakte eine verpflichtende Nutzung festgeschrieben. Aktuell darauf aufbauende Gesetze wie das Digitalisierungsgesetz und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz setzen diesen Weg konsequent fort.

Dennoch bleibt die Entwicklung zäh. Häufig wird vor allem an der technischen Basis der Telematikinfrastruktur nicht unberechtigt Kritik geübt. Hier sind die Konzepte teilweise mehr als 20 Jahre alt. Der Wechsel auf die neue Zielarchitektur bringt nun ein unerfreuliches Nebeneinander von alter und neuer Technik mit sich, was die Systeme aufwendig macht und den Betrieb schwierig.

Komplett digitale Behandlungskette wird möglich

Wir sollten nicht vergessen, dass das Ziel all dieser Vorhaben richtig ist. In der Vergangenheit haben wir in den einzelnen Sektoren weitgehend schnittstellenfrei Daten in proprietären Formaten und in Silos gehalten. Patienten und Patientinnen, die ein Krankenhaus besucht haben, können durchaus eindrucksvoll darüber berichten. Jetzt bekommen wir eine Zielarchitektur, die uns nicht nur die gemeinsame Datennutzung über Sektorengrenzen hinaus ermöglicht, sondern auch erstmals Patienten und Patientinnen direkt mit einbeziehen kann.

Dies geschieht nicht nur auf Basis der elektronischen Patientenakte (ePA), in welcher Patienten ihre eigenen Daten managen können, sondern auch durch Systeme wie den TI-Messenger. Das Chat-System verbindet zunächst Leistungserbringer in den Heilberufen untereinander. Später wird aber die direkte Kommunikation zwischen Ärztinnen und Ärzten und Patientinnen ermöglicht. Mit den Kernbestandteilen der TI wie der ePA, dem E-Rezept und Videosprechstunden sowie einer eindeutigen elektronischen Identität für Versicherte wird erstmals eine komplett digitale Behandlungskette möglich.

Um das ganze tatsächlich sinnvoll zu gestalten, muss die Umsetzungen des KHZG konsequent im Hinblick auf die Zielarchitektur der TI erfolgen. Hier bekommen wir endlich eine Plattform, wie sie auch andere Industrien wie Handel und Versicherungen nutzen. Nicht nur um die bestehenden Geschäftsmodelle effizienter zu gestalten, sondern auch um neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Seit Jahren wird davon gesprochen, Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt des Handelns zu stellen. Mit der Telematikinfrastruktur wird dies endlich möglich.

Dies birgt Chancen, bringt aber auch Risiken mit sich. Enthält die ePA in der ersten Ausbaustufe noch überwiegend PDF-Dateien, so werden hier zunehmend strukturierte Daten verfügbar sein. Mit diesen strukturierten Daten, über die die Patienten eigenständig verfügen können, wird auch die Auswahl weiterer Services für den Patienten möglich werden. Dies kann und wird auch bedeuten, dass Gesundheitsdienstleistungen von anderen Anbietern außerhalb der traditionellen Leistungserbringer des deutschen Gesundheitswesens bezogen werden.

Mit diesem Plattformökosystem kommen wir einer digitalen Medizin deutlich näher.

Niemand kann in einer Akte, die Dokumente und Daten von mehreren Jahren enthält, innerhalb kurzer Zeit durch Lesen dieser Informationen einen Überblick gewinnen. Hier werden Algorithmen und KI-Modelle erforderlich sein, deren ersten Vorläufer wir bereits sehen. Auch hier gilt es, Patientinnen und Patienten möglichst frühzeitig mit einzubinden. Ähnlich wie die Automobilindustrie das autonome Fahren in fünf verschiedene Klassen eingeteilt hat, um ihren Kundinnen und Kunden diese Technologie zu erläutern und näherzubringen, sollte solch ein Ansatz auch für die KI-Unterstützung im Gesundheitswesen gelten. So könnte eine Stufe eins darin bestehen, dass der Arzt oder die Ärztin lediglich durch einen Algorithmus unterstützt wird und die höchste Ausbaustufe („Level fünf“) für manche Erkrankungen eine voll autonome Diagnosestellung inklusive Therapiefestlegung durch einen Algorithmus beinhaltet.

Prozesse müssen deutlich angepasst werden

Um dies alles Realität werden zu lassen, genügt es nicht die Anforderungen der Anbindung an die TI in Form von Minimalvarianten umzusetzen. Wenn eine solche Plattform richtig genutzt werden soll, bedeutet dies auch deutliche Prozessanpassungen in den Krankenhäusern und Arztpraxen. Grund: Daten und Informationen, die benötigt werden, werden eben nicht mehr ausschließlich in den Systemen der Krankenhäuser und Arztpraxen liegen, sondern auf zentralen Plattformen wie der Telematikinfrastruktur. Mit nicht angepassten Prozessen lässt sich das Potenzial einer solchen Plattform nicht nutzen, hier gilt die Formel: OO + NT = COO oder in Worten: old organization + new technolgy = costly old organization.

 

Die Telematikinfrastruktur ist keine Arena für Lagerkämpfe. Sie sollte nicht zu einem Marktplatz der Eitelkeiten gemacht werden.

Letztlich wird die überfällig digitale Transformation des Gesundheitssektors nur funktionieren, wenn das Plattform-Ökosystem der Telematikinfrastruktur auf allen Seiten das notwendige Vertrauen genießt und alle Beteiligten konstruktiv an der Weiterentwicklung mitarbeiten. Sollte dies nicht gelingen, droht der Markteintritt anderer Plattformen, die ihre Funktionsfähigkeit längst bewiesen haben. Bei aller berechtigten Kritik kann die Lösung nicht in einer mehr oder weniger passiv aggressiven Blockadehaltung bestehen.

Die Telematikinfrastruktur ist keine Arena für Lagerkämpfe und sollte nicht zu einem Marktplatz der Eitelkeiten gemacht werden. Für eine personalisierte Medizin ist sie viel zu wichtig als Basis für ein auch für die Zukunft funktionsfähiges, partizipatives Gesundheitswesen. Wer sich heute keine eigene Plattform schafft, gibt die Steuerung morgen in die Hände anderer Plattformen.

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