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KommentarDigitalisierung ist keine Frage des Alters

Häufig und gern wird behauptet, es seien die „Digital Natives“ die die Digitalisierung im Gesundheitswesen fordern und vorantreiben. Das ist jedoch zu kurz gedacht. Patienten befürworten Digitalisierung unabhängig von ihrem Alter und zwar immer dann, wenn sie einen Mehrwert schafft.

Admir Kulin
m.Doc GmbH
Admir Kulin, Gründer und Geschäftsführer der m.Doc Gmbh, Anbieter für innovative digitale Gesundheitslösungen.

„Die Zahl der über 65-Jährigen, die Apps, Videotelefonie oder Online-Terminvereinbarungen bereits in Anspruch nimmt, wächst“, heißt es in zwei repräsentativen Untersuchungen des Digitalverbands Bitkom. Demnach wünscht sich sogar mittlerweile jeder dritte „Boomer“ mehr telemedizinische Angebote.

Warum ich das betone? Weil ich immer wieder lese, dass es die „Digital Natives“, also die Generationen Y und Z, seien, die die Digitalisierung des Gesundheitssystems fordern und vorantreiben. Das würde jedoch bedeuten, dass wir aktuell an einer Zukunft der Medizin arbeiten, die all diejenigen ausklammert, die von Innovationen und neuen Technologien mitunter am meisten profitieren: ältere Menschen. Denn statistisch gesehen nimmt sowohl die Anfälligkeit für Krankheiten, auch chronische, als auch die Höhe der Gesundheitskosten mit dem Alter zu. Außerdem würde eine solche Behauptung implizieren, dass wir als Spezies zwar immer älter werden, länger fit und agil bleiben, jedoch nicht mehr in der Lage sind, die neue Technologien, die uns heute zur Verfügung stehen und unser Leben in vielen Bereichen erleichtern, überhaupt zu begreifen, geschweige denn zu nutzen, sobald wir „alt“ werden. Beides sind nicht nur sehr traurige Annahmen, wie ich finde, sondern schlicht nicht wahr.

Telemedizin: greifbarer Nutzen

Der Grund, warum die Bitkom-Untersuchung eine so hohe Akzeptanz für Telemedizin innerhalb der Baby-Boomer-Generation feststellt, liegt schlicht und ergreifend am hohen Nutzen, den sie bietet. Einfachstes Beispiel: Online-Terminvereinbarung. Haben Sie Lust, ewig in der Warteschleife bei Ihrem Haus- oder Facharzt zu warten, nur um einen Termin zu vereinbaren? Wäre es Ihnen lieber, dafür persönlich in die Praxis zu fahren? Mal abgesehen davon, dass letzte Option in Zeiten einer globalen Pandemie ohnehin vermieden werden sollte, sind beide Varianten nicht sonderlich attraktiv. Und so kommt es eben, dass sich Menschen mit neuen technischen Lösungen auseinandersetzen und sich neue Fähigkeiten aneignen, weil sie ihnen das Leben erleichtern – und sei es nur, um den nächsten turnusmäßigen Check-up-Termin online buchen zu können.

Worauf ich hinaus will: Wie in allen Wirtschaftsbereichen, in denen die Digitalisierung voranschreitet, setzt sich durch, was beim Kunden ankommt. Das Gesundheitswesen macht da keine Ausnahme. Und genau deshalb ist Telemedizin aus meiner Sicht auch auf einem Siegeszug. Ihre Einsatzmöglichkeiten sind schlicht überzeugend – für Patienten und medizinisches Personal gleichermaßen.

Denken Sie beispielsweise nur an Menschen mit chronischen Erkrankungen, die dank Telemedizin zwar engmaschig überwacht werden können, dadurch aber auch eine gewisse Freiheit und Selbstbestimmtheit für ihr Leben erlangen, weil sie eben nicht ständig in einer Praxis oder Klinik sitzen müssen. Gleiches gilt für die Nachsorge. Denn in vielen Teilen Deutschlands müssen Patienten noch immer erhebliche Strecken zurücklegen, um Nachsorgetermine wahrzunehmen. Dabei ließen die sich ideal über telemedizinische Lösungen abdecken. Und die Bereitschaft hierzu ist bei den Patienten da. Telemedizin lässt Patienten solange sicher und mit einem guten Gefühl in den eigenen vier Wänden, bis es eben zu Veränderungen kommt, die über Vitaldaten und auch Abfragen zum Gesundheitsstatus herausgefiltert werden können. Die behandelnde Ärztin oder der Arzt können dann sofort reagieren und entsprechende Maßnahmen ergreifen. Auch hier ein Mehrwert, den Patienten deutlich erkennen können.

Telemedizin heißt ganzheitliche Medizin

Wir sprechen immer wieder davon, dass zielführende Therapien einen ganzheitlichen Ansatz benötigen. Und auch dort kann Telemedizin eine wichtige Rolle spielen. Nämlich dann, wenn Ärztinnen und Ärzten eine Art Dashboard zur Verfügung steht, anhand dessen sie den gesundheitlichen Zustand ihrer Patienten beurteilen, fundierte Entscheidungen treffen und gegebenenfalls an medizinische Fachkräfte delegieren können. Jeder CEO hat ein solches Tool zur Verfügung. Auf Unternehmensebene heißt das Business Intelligence. Es muss doch möglich sein, diese Business Intelligence auf eine Health Intelligence zu übertragen – und zwar so, dass sie Medizinern einen Mehrwert bietet und sie nicht zusätzlich belastet.

Eine solch intelligente Medizin würde nämlich bedeuten, den „Luxus“ zu haben, Menschen länger in ihren eigenen vier Wänden zu lassen, wann immer und wo immer das möglich ist – sei es bei einer Infektion, die zwar überwacht aber keine intensivmedizinische Betreuung erfordert, oder bei älteren Menschen, die zwar Unterstützung aber noch nicht unbedingt eine 24-Stunden-Betreuung benötigen. Auch hier, Sie ahnen es, ist Telemedizin ein wichtiger Teil der Lösung. Und welchen Vorteil eine solche Entlastung des Gesundheitssystems haben kann, wurde uns im Rahmen der Corona-Pandemie ja nun eindrucksvoll vor Augen geführt. 

Sogar Gesetzgeber und Kostenträger fangen an, sich von den zahlreichen Vorteilen telemedizinischer Lösungen überzeugen zu lassen. Das zumindest lässt sich sowohl aus der aktuellen Gesetzgebung als auch aus den Änderungen der Erstattungspolitik schließen, die gerade beginnt.

Nicht länger warten!

Kurz: Patienten wollen sie, bei Ärzten, Pflegern und Klinikmitarbeitern kommen die Vorteile langsam an. Nun ist es am Gesetzgeber, den Leistungserbringern und Kassen sowie der Industrie, aufs Tempo zu drücken, um bestehende telemedizinische Lösungen noch besser zu machen, die Erstattung zu regeln, den Wettbewerb zu fördern und mit den Anwendern zu sprechen, wo wir Dinge noch besser machen können.

Wir müssen über sektorübergreifende Lösungen sprechen, die Silos abbauen und Hürden überwinden. Wir müssen für eine noch größere Akzeptanz sorgen. Ich sehe eine große Chance für die Telemedizin, wenn wir unser Bedenkenträgertum über Bord werfen und stattdessen konstruktiv werden – das, finde ich, kann man gar nicht oft genug betonen. Wir dürfen nämlich nicht vergessen: Die ersten telemedizinischen Pionierlösungen sind hierzulande noch in den 90ern entstanden. Irgendwie sind wir es diesen Vordenkern doch auch schuldig, die Führungsposition bei der Digitalisierung des europäischen Gesundheitssystems zu verteidigen, oder?

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