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Deep Dive DigitalDas deutsche KI-Paradox – viel Faszination, viel Frustration

Anke Diehl beobachtet viel Widersprüchliches bei der KI-Nutzung im deutschen Gesundheitswesen. Zwar begeistern die Möglichkeiten, doch bremsen Dateninseln und ein Regulierungsdickicht Anwender aus. Lösungen müssten deren Wünsche viel stärker beachten.

Dr. med. Anke Diehl
Oliver Hartmann
Dr. Anke Diehl ist Chief Transformation Officer der Universitätsmedizin Essen.

Wenn man in deutschen Krankenhäusern über Künstliche Intelligenz spricht, schwingen zwei Emotionen mit: Faszination und Frustration. Faszination, weil man immer wieder von den Möglichkeiten faszinierender, neuer KI-Applikationen hört – bei gleichzeitig fast inflationärer Digitalisierungsbemühung im Gesundheitssektor. Frustration, weil genau diese Daten in einem undurchdringlichen Flickenteppich aus IT-Systemen, Datenschutzauflagen und regulatorischen Hürden gefangen scheinen und dadurch dann doch nicht nutzbar sind.

Willkommen im deutschen KI-Paradox: Wir haben die Daten, wir haben die Ideen – aber wir bekommen die Anwendungen nicht in die Versorgung.

In jedem Krankenhaus schlummern über Jahre gewachsene Datenbestände: Bildgebung, Labor, Kurven, Arztbriefe, OP-Berichte, Medikation. Theoretisch ist das der Traum eines jeden Data Scientist, praktisch aber eine Ansammlung von Dateninseln, die über inkompatible Subsysteme, proprietäre Schnittstellen und fragmentierte Dokumentationslogiken verteilt sind. 

KI-Projekte starten ambitioniert, enden aber allzu häufig im Pilotstatus.

Von interoperablen, semantisch harmonisierten Datenräumen, die eine multimodale Nutzung – also die kombinierte Auswertung von Bild, Text, Labor- oder Vitaldaten für KI-Applikationen – erlauben, ist man im Durchschnittshaus weit entfernt. Die Folge: KI-Projekte starten ambitioniert, enden aber allzu häufig im Pilotstatus, weil schon der stabile Zugriff auf die relevanten Datenquellen scheitert. 

Monomodale Erfolgsgeschichten, multimodale Baustellen

Erfolgreich sind bei medizinischer KI bislang überwiegend monomodale Anwendungen – insbesondere in der Radiologie, Pathologie und Dermatologie. Dort werden KI-Algorithmen typischerweise mit der Modalität „mitgeliefert“, etwa als Bestandteil eines CT- oder MRT-Systems, inklusive klar definierter Datenströme, Qualitätsprozesse und Zulassungslogik. 

Multimodale KI-Applikationen – etwa Clinical-Decision-Support-Modelle, die Bildgebung, Laborwerte, Vitaldaten, Medikationslisten oder Freitextnotizen zusammenführen – treffen dagegen auf eine Realität, in der diese Daten zuerst technisch, semantisch und organisatorisch erschlossen werden müssen. Genau hier wird es schwierig: Die heterogenen Quellen sind oft weder vollständig angebunden noch ausreichend standardisiert, sodass jede Implementierung einem Einzelstück gleicht.

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Wo mehrere Datenquellen zusammengeführt werden, vervielfachen sich auch die Risiken von Bias. Verzerrte Stichproben, nicht-repräsentative Patientengruppen oder historisch gewachsene Behandlungsmuster können in multimodalen Modellen tief verankerte Fehlsteuerungen erzeugen, die sich mit klassischen Validierungsstrategien nur begrenzt erkennen lassen. Und überhaupt: Wer soll das im Krankenhaus leisten? 

Für KI-Gesundheitsanwendungen bräuchten wir ja noch mehr – zum Beispiel embedded ethics, also Ethik, die nicht nachgelagert bewertet, sondern als integraler Bestandteil von Datenkurierung, Modellentwicklung, Training und Deployment mitgedacht wird. Das ist aufwendig, teuer und nur realistisch umsetzbar, wenn alle relevanten Stakeholder beteiligt werden: Klinik, Pflege, IT, Patientenvertretungen, Datenschutz, Medizinproduktexperten. Im Elfenbeinturm der Forschung lässt sich ein solches sozio-technisches System nicht verantwortungsvoll designen. 

KI-Forschung ohne klinischen Boden

So entstehen in wissenschaftlichen Instituten oftmals beeindruckende Modelle mit teils spektakulären Kennzahlen – allerdings unter Laborbedingungen. Datensätze sind gereinigt, Workflows idealisiert, die Implementierung in komplexe Krankenhausprozesse wird zwar gedanklich oft mitgedacht, aber nicht stringent durchdekliniert. Was im Paper glänzt, verhungert an der Schnittstelle zur Versorgung: Fehlende Integration in die reale klinische Datenwelt, fehlende Governance, unklare Haftung und dadurch kein tragfähiges Geschäftsmodell verhindern die Einführung und Nutzung am Point of Care.

Auf der anderen Seite stehen Krankenhäuser mit Finanzdruck, Personalmangel und stetig steigenden regulatorischen Anforderungen. Eine eigene Software selbst zu entwickeln – mit allen Pflichten der Medizinprodukteverordnung – ist für die meisten Häuser schlicht nicht realistisch, obwohl genau dort das Versorgungswissen und die klinische Erfahrung liegen. Die Chance, aus diesem Spannungsfeld ein Innovationsmodell zu machen, wird bisher kaum genutzt – wie auch: Der Versorgungsauftrag geht vor. Wie soll man da hochspezialisierte Data Scientists oder gar Personalaufwände für embedded ethics bezahlen? 

Das eigentliche Drama des deutschen KI-Paradoxes ist nicht das Fehlen von Technologie, sondern das Fehlen von Nutzungsorientierung.

Reallabore und digitale Sandboxen könnten hier zur fehlenden Brücke werden. In solchen Umgebungen lassen sich Algorithmen mit realen Daten, realen Prozessen und realen Nutzergruppen testen – unter klar definierten, aber flexibleren regulatorischen Rahmenbedingungen. Start-ups und akademische Teams werden so gezwungen, sich mit klinischen Workflows, Dokumentationspflichten, IT-Landschaft und Haftungsfragen auseinanderzusetzen, statt nur Benchmarks zu optimieren.

Öffentliche Förderung ist dabei keine Nice-to-have-Finanzspritze, sondern Bedingung für Fairness und Skalierbarkeit: Sie ermöglicht, dass Krankenhäuser teilnehmen und nutzerzentrierte KI mitentwickeln. So entstehen Lösungen, die nicht nur technisch beeindrucken, sondern im Alltag einer Notaufnahme um 3 Uhr morgens funktionieren und dabei Nutzerzentrierung sowie das Wertesystem der Healthcare Professionals reflektieren. 

Kollaboration statt KI im Nebenjob

Industriepartnerschaften sind ein weiterer Hebel, um aus dem KI-Nebenjob der Klinik einen professionellen Co-Entwicklungsprozess zu machen. Industrie bringt Erfahrung in Qualitätsmanagement, regulatorischen Dossiers und Skalierung, Start-ups den Innovationsdruck, Kliniken die Versorgungsrealität. Was bisher oft fehlt, ist ein strukturierter Rahmen, der Rollen, Datenhoheit, Wertschöpfung und Verantwortung transparent regelt. 

Parallel diskutiert Europa mit dem EHDS über ein neues Paradigma der Datennutzung, doch ohne interoperable IT und klare Governance-Strukturen in den Häusern bleibt auch der schönste europäische Datenraum ein Papiertiger. Wenn jedes Krankenhaus (Finanz-)notgedrungen Silos verteidigt, statt sich als Teil eines lernenden Systems zu verstehen, erstickt Multimodalität im eigenen Datendschungel. 

Vom Paradox zum Nutzungsversprechen

Das eigentliche Drama des deutschen KI-Paradoxes ist nicht das Fehlen von Technologie, sondern das Fehlen von Nutzungsorientierung. Ziel muss es sein, KI-Modelle zu entwickeln, die sich konsequent an den Bedürfnissen von Patienten und Healthcare Professionals ausrichten. Das gelingt nur, wenn Nutzerzentrierung kein Schlagwort in Projektanträgen bleibt, sondern den gesamten Entwicklungsprozess prägt – von der Datenakquise über die Modellarchitektur bis zum Interface am Point of Care. 

Deutschland ist Weltmeister in der Debatte und im Pilotprojekt, aber noch weit entfernt von der Routineanwendung. Wenn aus Dateninseln Datenräume, aus Regulierungsangst lernfähige Schutzräume und aus Forschungsprojekten nutzungsoptimierte Medizinprodukte werden, könnte sich das KI-Paradox auflösen. Dann ist KI im Krankenhaus kein Prestigeobjekt, sondern ein Werkzeug, das Versorgungsqualität hebt – und zwar dort, wo es zählt: am Patientenbett und in der Ambulanz, direkt am Point of Care.

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