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Modellprojekt „SaN“Das Potenzial ist gewaltig, die Aufgabe allerdings auch

In Berlin hat die emotionsgeladene Diskussion über die künftige Organisation der deutschen Notfallversorgung neuen Schwung aufgenommen. Derweil ist in drei hessischen Landkreisen das Modellprojekt „Sektorenübergreifende ambulante Notfallversorgung“ gestartet, das einiges verändern könnte.

Rettungswagen
Tobias Seeliger/stock.adobe.com
Symbolfoto

Jörg Blau sitzt in seinem Büro im hessischen Hofheim und verfolgt das für die deutsche Notfallversorgung derzeit wohl spannendste Modellprojekt aus nächster Nähe. Ein Stockwerk höher arbeitet die Rettungsleitstelle des Main-Taunus-Kreises (MTK). Dort landet, wer die Notrufnummer 112 wählt. Notfallmediziner Blau ist der Ärztliche Leiter Rettungsdienst (ÄLRD) des Landkreises, und wie die Leitstelle hat auch sein Amt für Brandschutz und Rettungswesen den Sitz im Gebäude der Hofheimer Feuerwehrwache. Am 9. Mai 2022 hat im MTK nach jahrelanger Vorbereitung und zusätzlicher Verzögerung durch die Coronapandemie das Projekt „Sektorenübergreifende ambulante Notfallversorgung“, kurz „SaN“, begonnen. Der MTK ist der erste von drei hessischen Landkreisen, die beteiligt sind. Gemeinsam proben sie drei Jahre lang die Notfallversorgung der Zukunft.

In den vergangenen Jahrzehnten hatten wir uns auseinanderdividiert und kommunikativ getrennt. Jetzt reden wir wieder miteinander.

Es geht um die optimale Steuerung von Patienten in stationäre oder ambulante Behandlung, die Entlastung der Not-aufnahmen in den Krankenhäusern und vermeidbare Rettungsdienstfahrten. Vor allem sollen eindeutig ambulant behandelbare Fälle in den Kliniken nicht länger Ressourcen für echte Notfälle blockieren. Dafür haben sich, koordiniert von der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen (KVH), insgesamt zwölf Partner von der Landesärztekammer über den Hessischen Landkreistag bis zu den Kassenverbänden zusammengerauft – ein Bündnis über die bislang starren Sektorengrenzen hinweg, das Dr. Eckhard Starke noch immer stolz macht. Der stellvertretende KVH-Vorstandsvorsitzende hat hart dafür gearbeitet: „In den vergangenen Jahrzehnten hatten wir uns auseinanderdividiert und kommunikativ getrennt, keiner wusste, was der andere tut“, sagt er: „Jetzt reden wir wieder miteinander.“ Das Potenzial sei gewaltig – die Aufgabe ist es allerdings auch, nicht nur die technische.

Leitstellen verzahnt

Damit Patienten samt bereits erhobener Daten problemlos vom ambulanten ins stationäre System und umgekehrt übergeben werden können, haben die Rettungsdienste und die KVH ihre über 112 beziehungsweise 116 117 erreichbaren Leitstellen verzahnt. Zudem werden auch die Praxen niedergelassener Ärzte bei der in hessischen Krankenhäusern schon seit Jahren flächendeckend eingesetzten Anwendung Ivena (Interdisziplinärer Versorgungsnachweis) eingebunden. Sie informiert in Echtzeit über die verfügbaren Behandlungs- und Versorgungsmöglichkeiten der Kliniken – und jetzt auch der angeschlossenen Praxen. Dadurch können im Rahmen von „SaN“ sowohl die 116 117 sowie die beteiligten Krankenhäuser und die Rettungskräfte vor Ort Patienten während der Sprechstundenzeiten verbindlich direkt in den Partnerpraxen einbuchen, sofern Ivena dort das nötige Know-how und freie Kapazitäten meldet. In den übrigen Zeiten sind die Zentralen des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes (ÄBD) die Anlaufstellen.

Um sicher einschätzen zu können, welche Behandlung für den jeweiligen Patienten die richtige ist, setzen die Projektpartner neben der bewährten Notrufabfrage an der 112 zudem einheitlich auf die Spezialsoftware SmED. Diese vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi) entwickelte „Strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Deutschland“ nutzen die KVen bereits für die Anrufer unter der 116 117. Für „SaN“ wurde sie unter anderem für den Einsatz durch Kliniken und die Rettungskräfte vor Ort erweitert. Neben dem Main-Taunus-Kreis läuft das Modellprojekt im Main-Kinzig-Kreis und im Kreis Gießen. Damit sind neben acht bis zehn Krankenhäusern in der Modellregion drei von insgesamt 26 Leitstellen im Bundesland Hessen involviert, und derzeit beteiligen sich gut 70 Praxen, sagt Starke. „Die Bereitschaft ist außerordentlich groß, viele hatten schon darauf gewartet.“

Retter fahren Praxen an

Jörg Blau hat die Rettungskräfte im MTK intensiv auf die neue Situation vorbereitet. Hatten sie bislang nur die Möglichkeit, Patienten in ein Krankenhaus zu bringen oder sie daheim zu lassen, gibt ihnen das Modellprojekt mit der ambulanten Versorgung in einer ärztlichen Praxis eine weitere Option. Das per Tablet ermittelte SmED-Ergebnis, in das auch die Vitalparameter einfließen, zeigt, ob und in welchem Zeitfenster ein Arztbesuch nötig ist. In den dringenden Fällen über-nehmen die Retter direkt den Transport in eine Praxis – und werden dafür auch bezahlt. Die Teams haben so vor allem „höhere Rechtssicherheit“, sagt Blau: „Einen Patienten zuhause zu lassen, war für die Rettungskräfte bislang oft mit einem unguten Gefühl verbunden. Die Sorge, eventuell doch etwas übersehen zu haben, war groß.“

Um eine passende Arztpraxis zu finden und ihren Patienten dort anzumelden, nutzen auch die Rettungskräfte Ivena. Das System erzeugt unter anderem eine sogenannte Masterfall-ID, die für die Abrechnung des Einsatzes mit der KV nötig ist, zunächst nur mit der Verdachtsdiagnose und dem Alter des Patienten. Personalisiert werden alle Daten aus Datenschutzgründen erst dort, wo letztlich die Versorgung stattfindet. Transportieren die Rettungskräfte den Patienten nicht weiter, generiert die Leitstelle die wichtige Nummer. Im MTK sind von bis zu 25 Praxen, die für das Projekt infrage kommen, bislang sieben angebunden. In den ersten drei „SaN“-Wochen wurden bereits sieben Patienten direkt in Praxen gebracht, und Jörg Blau ist überzeugt, „dass die Rettungskräfte das Angebot schätzen werden“. Schließlich kann es ihnen manch lange Fahrt durch den Landkreis zu einem freien Krankenhaus ersparen.

Entlastung für Notaufnahmen

Pro Jahr absolvieren die rund 400 Rettungskräfte im MTK durchschnittlich 27 000 Einsätze, gut 2 000 davon, so schätzt Blau, könnten Fälle für Praxen sein. Durch die kürzeren Fahrten sind die Einsatzfahrzeuge schneller wieder verfügbar, Betriebskosten sinken, und auch die Patienten profitieren, „wenn sie wohnortnah versorgt werden können“, ist Blau überzeugt. Neben seiner Arbeit als ÄLRD ist er auch selbst immer noch als Notarzt im Einsatz. Eine der spannenden Projekt-Fragen ist für ihn, wie gut die Kommunikation zwischen den beiden Notfall-Nummern 112 und 116 117 funktionieren wird, wie transparent das Weiterreichen von Patienten und der Austausch von Datensätzen in der neuen virtuellen gemeinsamen Leitstelle sein wird.

Den Krankenhäusern beschert das Modellprojekt im Idealfall deutlich weniger Fälle in ihren chronisch überlasteten und unterfinanzierten Notaufnahmen. Werden Patienten an der 116 117 oder von Rettungskräften als ambulanter Fall eingeschätzt, tauchen sie erst gar nicht in den Kliniken auf. Prof. Dr. Steffen Gramminger verdeutlicht das mit zwei typischen Fällen: „Eine kleine Schnittverletzung am Finger kann auch in einer chirurgischen Praxis versorgt werden. Für die drei Stiche muss niemand in die Notaufnahme“, sagt der Geschäftsführende Direktor der Hessischen Krankenhausgesellschaft (HKG) in Eschborn. Oder er denkt an Pflegeheimbewohner, deren dauerhafte Blasenkatheter regelmäßig verstopfen und gewechselt werden müssen. „Diese Patienten wurden bislang immer in ein Krankenhaus gefahren. Doch mit dieser Bagatelle wurden dort Ressourcen blockiert. Dabei kann das auch ein niedergelassener Urologe übernehmen.“ Vom SaN-Projekt erhofft sich Gramminger unter anderem, dass Ressourcen geschont werden – sowohl mit Blick auf das Personal als auch auf die Finanzen.

Kliniken noch zurückhaltend

Patienten, die selbst direkt in die Not-aufnahmen kommen, müssen künftig ebenfalls nicht unbedingt im Krankenhaus behandelt werden. Ergibt die Ersteinschätzung, dass die Versorgung in der ambulanten Struktur ausreicht, kann sie das Team der Notaufnahme mit Ivena an eine Partnerpraxis übergeben. Diese Funktion ist neu für die Kliniken. Bislang haben sie nur ihre eigenen Ressourcen in das System eingespeist, künftig können sie auch Patienten in den Praxen anmelden.

Diesen Mehraufwand betreibt ein Krankenhaus nur, wenn es von dem konkreten Nutzen wirklich überzeugt ist.

Das flächendeckend auszurollen, sei eine echte Hürde, erklärt Gramminger. Die nötige IT-Anbindung sei „ein Riesenaufwand“. Zwar werden die Kosten für die Umstellung im Rahmen des Projektes übernommen, doch jedes Haus müsse seine Prozesse anpassen und Beschäftigte schulen. „Das darf man nicht unter-schätzen. Diesen Mehraufwand betreibt ein Krankenhaus nur, wenn es von dem konkreten Nutzen wirklich überzeugt ist“, betont Gramminger. Zudem bedeute der Einstieg in ein neues System auch meist, dass sich Abläufe verlangsamen. Viele Verantwortliche hätten daher noch Vorbehalte, seien eher zurückhaltend und beobachteten zunächst die Entwicklung. Relativ weit ist bislang nur das Agaplesion Evangelisches Krankenhaus Mittelhessen in Gießen. Doch weitere Häuser sollen sukzessive folgen, versichert Gramminger. Ohnehin würden die Kliniken diese neue Möglichkeit „am Anfang äußerst vorsichtig nutzen und im Sinne der Patientinnen und Patienten sehr auf Nummer sicher gehen“. Im Projekt liege der Fokus zunächst auf der 116 117, die bereits flächendeckend an Praxen übergeben könne.

Wie reagieren die Patienten?

„Ehrlich gespannt“, so Gramminger, sei man auf Seite der Krankenhäuser, wie die Neuerung dort ankomme. Würden die Abläufe zu stark behindert, könnten sich Praxen schnell wieder vom System abmelden, fürchtet der HKG-Mann: „Notfall-Patienten können den Praxis-betrieb erheblich stören.“ Das hat auch Jörg Blau seinen Rettungskräften mit auf den Weg gegeben. „Beim Auftreten in den Arztpraxen ist ein partnerschaftliches Miteinander gefragt“, betont er. Auf ein volles Wartezimmer zu treffen, ist etwas Anderes als eine Notaufnahme anzufahren.

Zudem haben alle Projektpartner ein besonderes Augenmerk auf den „Faktor Patient“. Wie viele werden weitergeleitet? Wie nehmen sie überhaupt die 116 117 an? Kommt es wirklich zu einem Umdenken? Und vor allem: Gelingt die Kommunikation? „Das ist sehr wichtig und brisant“, betont Steffen Gramminger. Schon jetzt würden einige Kliniken Patienten an den ÄBD übergeben, wenn der direkt im Haus oder auf dem Gelände angesiedelt sei. Gleiches gelte für niedergelassene Praxen in unmittelbarer Umgebung. „Das wird bereits gemacht – einfach per Telefon.“ Doch wie werden Patienten reagieren, wenn sie an eine Praxis vermittelt werden, die nicht maximal wenige Meter entfernt liegt? „Es kann ein gutes Argument sein, dort behandelt werden zu können, statt stundenlang in der Notaufnahme zu warten – allerdings muss das in der Praxis dann auch alles funktionieren.“ In einer solchen Pionier-Situation brauche ein Krankenhaus schon „eine hohe intrinsische Motivation, um von der ersten Stunde an dabei zu sein“, sagt Gramminger: „Da kann man nicht einfach einen Schalter umlegen – das ist ein steiniger, aber ein sich lohnender Weg für alle Beteiligten.“

Vergütungsfragen gelöst

Das Hessische Ministerium für Soziales und Integration beziffert die Gesamtkosten des „SaN“-Projekts auf 560 000 bis 600 000 Euro. Sowohl für die Kosten der KV Hessen als auch für die IT-Anbindung und die Transportdurchführung durch die Rettungsdienste seien mit den Verbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen in Hessen Vergütungslösungen gefunden worden, heißt es in Wiesbaden. Mit Blick auf die Patientensicherheit werde das Projekt eng durch das Zi begleitet – auch um herauszufinden, wie viele als ambulant eingestufte Fälle sich am Ende möglicher-weise doch als Fall für die Notaufnahme erweisen.

An dem Punkt ist zumindest Eckhard Starke bislang relativ gelassen, auch wegen der Erfahrungen am Klinikum Frankfurt Höchst, das damit für das „SaN“-Projekt in gewisser Weise Pate stand. Seit einigen Jahren übergibt die Notaufnahme des Klinikums Patienten nach entsprechen-der Ersteinschätzung direkt an den ÄBD, der dort auf demselben Flur residiert. „Ab dem ersten Tag hatte die ZNA 30 Prozent weniger Patienten, und Fehler sind absolut zu vernachlässigen“, sagt der KVH-Vorstand. Er ist überzeugt, dass „SaN“ in Hessen noch während seiner Laufzeit weiter ausgerollt wird. Vielleicht werde noch da und dort nachgebessert, „doch die Leitplanken sind gesetzt, und wir sind alle in derselben Richtung unterwegs – wenn es einmal rollt, werden wir das nicht mehr missen wollen.“

Dieser Artikel erscheint in der kma Ausgabe 7-8/22 (ET: 15.07.) und ist hier vorab kostenlos verfügbar.

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