
Diejenigen unter Ihnen, die mich kennen, wissen, ich bin Albert-Einstein-Fan. Ich teile seine Einstellung in so vielen Punkten. Wie gerne würde ich mich mit diesem großartigen Denker einmal austauschen. Auch deshalb hoffe ich auf den medizinischen Fortschritt a la Futurama. Spaß bei Seite, aber als ich vergangene Woche mein persönliches Halbjahres-Resümee ziehen wollte, kam mir folgendes Zitat wieder in den Sinn: „Halte dich fern von negativen Menschen. Sie haben ein Problem für jede Lösung.“ Nun ist umstritten, ob das Zitat wirklich Einstein zugeordnet werden kann, es trifft allerdings zu 100 Prozent das, was im Gesundheitswesen gerade passiert, sodass ich es einfach hier mit Ihnen teilen musste – unabhängig davon, welchem klugen Kopf diese Zeilen entsprungen sind.
Halbzeit und nun?
Sechs Monate dieses Jahres sind bereits um, in den ersten Bundesländern haben die Ferien begonnen und die Menschen sind unterwegs in den Urlaub – „endlich wieder verreisen“, höre ich aus allen Ecken. Auf den großen Events der Branche – etwa der DMEA oder dem Hauptstadtkongress – wurde viel über die Zukunft des deutschen Gesundheitswesens diskutiert, Innovationen angepriesen und die Branche insgesamt für ihr unermüdliches Engagement gelobt. Worüber allerdings aus meiner Sicht zu wenig gesprochen wird, sind die so entscheidenden Weichen für eben diese rosige Zukunft, für den internationalen Anschluss von „Healthcare made in Germany“, die aktuell leider empfindlich klemmen und deswegen nicht oder vielleicht falsch gestellt werden.
Und genau hier kommt das mutmaßliche Einstein-Zitat ins Spiel: Es gibt sie, die technischen Lösungen, ausgereift, vielfach in der Praxis eingesetzt und erprobt, und doch scheinen viele Probleme in eben diese Lösungen hineindiskutiert zu werden. Das liegt zum Teil daran, dass wir durch Behörden Anforderungen diktiert bekommen, die schlicht und ergreifend nicht „state of the art“ sind. Und daraus entstehen Lösungen, die entweder die Menschen nicht in den Mittelpunkt stellen und damit die User Journey vernachlässigen, respektive den Anforderungen der Nutzer nicht gerecht werden. Oder denken Sie an die Diskussionen um die Cloud, wo meiner Meinung nach immer vergessen wird, dass wir mit diesem „Kaugummibegriff“ alles und nichts meinen können. Diskutieren sollten wir – wenn überhaupt – nur über die sehr guten deutschen und europäischen Cloud-Lösungen. Und so richtig absurd finde ich das aktuelle politische „Battle“ zwischen dem Onlinezugangsgesetz, aka OZG, und der Telematikinfrastruktur. Da könnte man direkt eine Unterschaltungsshow draus machen. Denn die Diskussion, ob ich ein Bürger oder ein Patient bin, ist ungefähr so sinnvoll, wie zu hinterfragen, ob man gerade mit Dr. Jekyll oder Mr. Hyde spricht.
Pandemie? Welche Pandemie?
Was ich mich dabei immer Frage: Sind die Herausforderungen aus über zwei Jahren Pandemiegeschehen bereits vergessen? Haben wir nicht gelernt, wie wichtig der interoperable Austausch von Patientendaten über Regionen und Landesgrenzen hinweg ist? Wenn man einem aktuellen Bericht der Europäischen Kommission Glauben schenken darf, haben wir wenig gelernt. Denn das von ihr beauftragte Unternehmen Open Evidence, ein Spinoff der spanischen Universität Oberta de Catalunya, kommt zu dem Ergebnis, dass viele der europäischen Länder zwar an der Digitalität ihrer Gesundheitssysteme arbeiten, eine interoperable elektronische Patientenakte jedoch nicht in Kraft sei. Viele Patientinnen und Patienten könnten demnach nicht ohne weiteres auf ihre Daten zugreifen, sie nutzen oder zwischen Gesundheitsdienstleistern übertragen. Und wie wir wissen, ist Deutschland eines dieser europäischen Länder mit eben diesem Status Quo in Sachen ePA. Und auch das analysiert der Bericht messerscharf: Im Alltag ist diese Tatsache vielleicht kein sehr großes Problem, wenn wir allerdings (wieder) vor einer Herausforderung wie einer globalen Pandemie stehen, müssen wir uns die Frage gefallen lassen, warum wir die Interoperabilität nicht aktiv vorangetrieben haben, als wir die Gelegenheit dazu hatten.
Ein ganz ähnliches Bild zeichnet sich bei der Digitalisierung der Behörden ab, die – ebenfalls angestoßen durch Corona – nun beschleunigt werden soll. Dabei wird jedoch offensichtlich parallel gearbeitet. Denn einerseits versucht die gematik, mit der Telematikinfrastruktur das Gesundheitswesen zu digitalisieren, während andererseits die öffentliche Verwaltung mit dem OZG den Weg ins digitale Zeitalter schaffen soll. Dass es eine Verbindung zwischen beiden Infrastrukturen geben muss – und sei es nur für die Gesundheitsämter, die mit beiden Lösungen arbeiten werden –, ist bisher zwar den Spezialisten aufgefallen, als Handlungsaufforderung hat es jedoch niemand so recht verstehen wollen. Während sich die Bundesregierung also gerade ebenfalls in die Sommerpause verabschiedet, sieht ihre Digitalisierungsbilanz zur Halbzeit – zumindest mit Blick auf eine ganzheitliche Herangehensweise – damit eher bescheiden aus. Und dass, obwohl die Gesundheitsministerkonferenz erst Ende Juni einem Bericht zugestimmt hat, wonach ein Mehr an Digitalisierung eine entscheidende Lehre der Corona-Pandemie sei, die Modernisierung des Gesundheitswesens als zentrale Punkte in den frischen Koalitionsverträgen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein verankert wurden und mittlerweile auch die Digitalstrategie der Bundesregierung in einem ersten Entwurf vorliegt.
Keine Angst vor der Cloud
Ein Problem scheint es auch mit Cloud-Lösungen innerhalb des deutschen Gesundheitssystems zu geben, was auch deshalb interessant ist, weil viele andere Branchen sich bereits mit Multi-Cloud-Lösungen und ihrem Management beschäftigen. Im Gesundheitswesen lautet die gängige Diskussion allerdings nach wie vor On-Premise versus Cloud. Auch hier Einstein: Die Lösung ist da, wird allerdings von allen Seiten mit vermeintlichen Problemen behaftet – zu unsicher, zu gefährlich, nicht passend für sensible Gesundheitsdaten. Vielleicht würde er an dieser Stelle aber auch Folgendes anbringen: Immer wieder dasselbe tun, aber skalierungsfähige Lösungen erwarten. Das Ende dieses leicht angepassten Zitats kenne sicher alle.
Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Nicht nur die Informationssicherheit ist innerhalb der Cloud deutlich höher, sie ist auch wirtschaftlicher. Durch die ihnen zugrundeliegende Dynamik sind Cloud-Services in jede beliebige Richtung skalierbar. Und spätestens wenn wir über Telemonitoring sprechen, also in Echtzeit die Ergebnisse der Blutdruckmessung, des Ganges auf die Waage oder der Herzfrequenzmessung übermitteln wollen, kommen wir um die Cloud kaum herum. Wer es drastisch formulieren will, kann sagen, dass echte Innovation im Bereich Digital Health ohne umfassende Cloud-Services kaum möglich ist.
Was wollen wir?
Woher kommt also diese Skepsis, woher diese Furcht? Wir nutzen in so vielen anderen Bereichen digitale Lösungen wie selbstverständlich und hinterfragen für meinen Geschmack an zu wenigen Stellen die Verwendung von persönlichen Daten. Daher ist es zunächst richtig und wichtig, dass wir es im Gesundheitswesen tun. Aber wenn ein Patient oder eine Patientin sich jetzt hier und heute fragt, wer eigentlich alles gesundheitsrelevante Daten gespeichert hat, wird eine Antwort kaum möglich sein. Ich kann jedenfalls nicht mehr bis ins Detail rekonstruieren, welchen Praxen ich seit meiner Geburt aufgesucht habe, wo ich überall physiotherapeutisch in Behandlung war oder welche Notizen sich der Chiropraktiker gemacht hat, bei dem ich neulich war. Können Sie es?
Ist es dann nicht ganz klar ein Fortschritt, wenn wir hier als Branche auskunftsfähig werden, wenn Daten zentralisiert gespeichert werden, über die Patientinnen und Patienten dann verfügen können? Wird dadurch nicht auch der Datenschutz und die IT-Sicherheit immens erhöht?
Oder anders formuliert: Wollen wir Fortschritt oder Rückschritt? Wollen wir Lösungen oder uns lieber an Problemen festbeißen? Wollen wir mitgestalten oder irgendwann hinnehmen, was uns die Tech-Giganten mit ihren US-basierten Cloud-Lösungen diktieren? Ich für meinen Teil habe eine klare Antwort darauf und versuche daher, mich in Zukunft von negativen Menschen noch ferner zu halten.




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