
Sowohl digitale Dienstleistungen wie Telemedizin oder Gesundheits-Apps als auch das Gesundheitsdatenmanagement mit der Austauschmöglichkeit von Daten sind aktuell wichtige Themen, wenn es um die Entwicklung des deutschen Gesundheitssystems geht. Auf dem Hauptstadtkongress im Mai 2019 waren sowohl Aufbruchstimmung als auch Veränderungsdruck hautnah zu spüren.Estland als „Digitalisierungsvorreiter“ hat als einziges Land in Europa mittlerweile über zehn Jahre Erfahrung mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen.
99 Prozent der Esten haben eine digitale Patientenakte
Aus der Not wurde eine Tugend: Im Jahr 2007 war Estland Ziel eines zwei Wochen andauernden Cyberangriffs auf die Staatsinfrastruktur des Landes: Webseiten von Regierung und Parlament sowie Medien und Banken waren betroffen. Als Konsequenz daraus etablierte Estland ein Blockchain-basiertes Datenmanagementsystem, bekannt als E-Estonia, sowohl im Bereich der staatlichen Verwaltung als auch im Gesundheitssystem.
99 Prozent der Esten haben eine digitale Patientenakte, dessen Verwaltung einfach über ein Smartphone erfolgt. Die Bürger stehen mit ihrer ID-Card dabei im Zentrum aller staatlichen Dienstleistungen. Mit ihrer ID-Card bekommen sie Zugriff auf die umfangreichen digitalen Bürgerservices: 99 Prozent der Services sind rund um die Uhr erreichbar. Die ID-Card dient zur Identifizierung bei Banken oder Wahlen und es können damit rechtsverbindlich Unterschriften getätigt werden.
Eintrittspunkt für die Bürger ist das Zertifizierungscenter, in dem alle Zugriffe auf Daten nachvollziebar und unveränderbar mitprotokolliert werden. Dies wird durch die Nutzung der Blockchain-Technologie ermöglicht, bei der wie bei einer Kette Daten miteinander verbunden werden, indem sie aufeinander aufbauen. Sogar die Meldung einer Geburt ist in Estland vollständig elektronisch möglich, inklusive Anmeldung des Kindes zur Krankenversicherung und Beantragung staatlicher Sozialleistungen.
Einsparungen in Millionenhöhe
Für Deutschland, wo laut Bundesministerium des Inneren etwa 4,7 Millionen Menschen im öffentlichen Dienst tätig sind, ist dies zurzeit undenkbar. Estland rechnet seine Einsparungen gerade in der öffentlichen Verwaltung durch die bestehende Lösung mit 1 400 Mannjahren vor. Dabei wird davon ausgegangen, dass jede Anfrage bei E-Estonia mindestens 15 Minuten eines Mitarbeiters in Anspruch nehmen würde. Seit 2018 hat Finnland ebenfalls die Lösung übernommen, so dass eine Zusammenarbeit über die Staatsgrenzen hinaus erleichtert wird.
Im Gesundheitsbereich können die Bürger z. B. online ihre Krankenakte oder digitale Rezepte einsehen bzw. freigeben. Die Struktur des estländischen Gesundheitssystems ist zwar nicht vergleichbar mit dem deutschen, da nur drei Stakeholderelemente etabliert sind: das Sozialministerium und ihre nachgeordnete Behörde, die zentrale estländische Krankenversicherung (EHIF = Estonian Health Insurance Fund) und die Gesundheitsserviceanbieter, darunter als zentrales und steuerndes Element die Hausärzte. Deutlich wird für Deutschland auf jeden Fall, welches Einsparpotenzial ein digital funktionierendes System bietet.
McKinsey schätzt dieses in 2018 auf 34 Millionen Euro und gibt einen detaillierten Einblick in die Einsparfelder mit allein etwa 9 Millionen Euro bei der konsequenten Digitalisierung medizinischer Daten.
Unterwegs auf der Datenautobahn
Als technisches „Rückgrat“ der Datensicherung in Estland ist eine „keyless signature infrastructure“ (KSI blockchain = x-road) etabliert. Diese Infrastruktur gewährleistet zum einen die Nachvollziehbarkeit und zum anderen die Interoperabilität zwischen den öffentlichen und privaten Dienstleistungen. Hierbei werden alle eingehenden und ausgehenden Daten auf ihre Herkunft geprüft, der Speicherort protokolliert sowie alle ausgehenden Daten digital signiert und verschlüsselt. Ein Datentransfer von 1 012 Aktionen pro Sekunde ist dabei möglich. Sicherheit wird also durch Transparenz der Prozesse erzeugt.
Über das Zertifizierungscenter erreicht der Bürger sowohl die staatlichen Dienstleistungen als auch die Dienstleistungen von Banken oder des estländischen Energieversorgers.m Gesundheitsbereich sind digitale Dienstleistungen wie z. B. die digitale Patientenakte (ePA) und die digitale Verschreibung (eRezept) über das Zertifizierungscenter erreichbar. Über x-road erhält die ePA des Bürgers (nach Identifikation mit seiner ID) von allen Serviceanbietern die personenbezogenen Gesundheitsdaten und stellt sie in einem Standardformat wieder zum Abruf bereit (e-patient portal).
Wie einfach dieser digitale Zugang zu seiner Patientenakte funktioniert, konnte der Estländische Botschafter, Dr. Mart Laanemäe, auf dem Hauptstadtkongress 2019 demonstrieren. Ergänzend werden hierüber z. B. Bilddatenbanken und Register (z. B. Krebs-, Geburten-und Sterberegister, für Statistiken und zu Forschungszwecken als Metadaten) geführt. Überweisungen und Verordnungen von Medikamenten (eRezept) werden für jede Person erfasst und einer automatischen digitalen Abrechnung über „smart contracts“ (in der Blockchain einprogrammierte Vereinbarungen z. B. zu Zahlungsmodalitäten) zu Gunsten der Servicedienstleister zugeführt.
Elektronische Patientenakte als Vorbild für Deutschland
Jeder Bürger kann seine aktuellen Verschreibungen kontrollieren und Nachfolgerezepte erhalten. Die Freigabe seiner gesammelten Daten erfolgt über seine Bürger-ID, wobei er die Inhalte seiner Patientenakte an Ärzte oder andere Servicedienstleister freigeben und die angefallenen Rechnungen kontrollieren kann. Eine solch effiziente Zugriffsweise auf medizinische Daten, die die Zugriffshoheit beim Bürger belässt und gleichzeitig Interoperabilität und Kosteneffizienz gewährleistet, ist sicherlich ein gutes Beispiel, welches Deutschland sich zum Vorbild nehmen kann.
Dieser Artikel erschien in der aktuellen Ausgabe der Klinik Management aktuell.





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