
kma: Hat Cottbus das Potenzial, ein Standort für Spitzenmedizin zu werden?
Nagel: Zunächst muss man natürlich definieren: Was ist ein Standort für Spitzenmedizin? Ich glaube, da gibt es ganz unterschiedliche Aspekte. Diese werden auch in der Gründung und Zielrichtung der Medizinischen Universität Lausitz – Carl Thiem (MUL-CT) deutlich. Wir werden kein Standort sein wie zum Beispiel Heidelberg mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum, an dem über Jahrzehnte eine Infrastruktur der Forschung, wissenschaftlichen Entwicklung, innovativen Einrichtungen und Industrie entstanden ist und spezifische biomedizinische Fragestellungen besonders intensiv bearbeitet werden, die entsprechend auch im Kontext der Patientenbehandlung stehen. In Cottbus haben wir eine andere Aufgabe. Wir heißen nicht umsonst Medizinische Universität Lausitz. Wir beziehen uns bei der Frage der Struktur, Aufgabe und Weiterentwicklung auf eine ganze Region. Wir sind die erste und auf diese Art und Weise auch die einzige medizinische Universität, die praktisch einen Strukturgedanken aufnimmt.
Wir sind die erste und auf diese Art und Weise auch die einzige medizinische Universität, die praktisch einen Strukturgedanken aufnimmt.
Wie soll das umgesetzt werden?
Wir sind gerade dabei, unser Medizinkonzept zu entwickeln. Dabei berücksichtigen wir, welche Aufgaben wir für die gesamte Region haben und was in Zukunft an diesem Standort stattfinden muss. Wie können wir andere Standorte wie Spremberg, Forst, Guben und Senftenberg mit in eine Gesamtversorgungssituation für die Bevölkerung einbeziehen? Das geht bis in die Abstimmung mit den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen – wir leben hier also integrierte Versorgung. Das wird so in Deutschland noch nicht realisiert. Dazu kommt der universitäre Charakter: Wie können wir diese Region im Rahmen eines Modellstudiengangs in interprofessionellen Studiengängen für die Ausbildung nutzen und gleichzeitig relevante strukturierende Maßnahmen beforschen? Hier soll daran geforscht werden, welche Bedeutung das Gesundheitssystem für eine gesunde Bevölkerung hat, wie Erkrankungen adäquat vermieden werden können.
Prävention wird also eine besondere Rolle an der Medizinischen Universität Lausitz spielen?
Wir haben einen erweiterten Gesundheitsbegriff, der an anderen Standorten so noch nicht wahrgenommen wird: Wir legen auf Prävention – nicht nur die Frage der Entstehung einer Krankheit, sondern das Erhalten von Gesundheit – einen ganz anderen Stellenwert, als das an anderen Universitätskliniken möglich ist, weil deren Schwerpunkte eben in der Behandlung von Erkrankungen liegen. Wir haben also eine andere Grundgenetik als die meisten Standorte der Universitätsmedizin. Und ich glaube, die ist mit Blick auf die aktuelle Entwicklung der medizinischen Versorgung eine sehr passende und auch zukunftsfähige.
2026 soll der Studiengang starten. Um die Unimedizin aufzubauen, braucht es Expertinnen und Experten für Forschung, Lehre und Versorgung. Wie schwierig ist es, diese Fachleute – und später auch Studierende – nach Cottbus zu ziehen?
Wir befinden uns offensichtlich in einer gesellschaftlichen Entwicklung, bei der die Mobilität junger Menschen mit Blick auf die Ausbildung nicht mehr so gegeben ist wie früher. Insofern ist es natürlich ein großes Unterfangen zu sagen, wir können Menschen aus der ganzen Welt nach Cottbus holen. Warum sollen sie hierherkommen? Weil es hier ein Angebot geben wird, das für junge Wissenschaftler, aber auch für Studierende interessant ist. Es ist daher immens wichtig, dass unser Projekt eine spezifische Attraktivität hat.
Zur Person

Prof. Dr. Eckhard Nagel ist seit Juli 2024 Vorsitzender des Gründungsvorstandes der MUL-CT und Vorstand Krankenversorgung. Zuvor war er ab Dezember 2022 medizinisch-wissenschaftlicher Projektbeauftragter für das Innovationszentrum Universitätsmedizin Cottbus, um ein konkretes Konzept für den Aufbau der Universitätsmedizin zu erarbeiten. Er hat sowohl einen Doktor der Medizin, der Theologie als auch einen der Philosophie. Der Facharzt für Chirurgie, Transplantationsmediziner und Medizinethiker hat seit 2000 den Lehrstuhl für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften an der Universität Bayreuth inne und war parallel Chefarzt in der Chirurgie sowie Leiter des Transplantationszentrums am Klinikum Augsburg. Von 2010 bis 2015 übernahm er die Position des Ärztlichen Direktors und Vorstandsvorsitzenden des Universitätsklinikums Essen. Seit 2015 war er als Geschäftsführender Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Universität Bayreuth tätig und dort von 2017 an verantwortlich für die Humanmedizinische Ausbildung am MedizinCampus Oberfranken.
Welche soll das sein?
Wir möchten hier junge Menschen anziehen, die eine klare Vorstellung davon haben, dass das Medizinstudium, das Arztsein etwas ist, das eng mit anderen Gesundheitsberufen verknüpft ist. Junge Menschen, die eine Faszination für Digitalisierung, Informationstechnologie haben und sich im Hinblick auf ihre spätere berufliche Tätigkeit im Bereich der Gesundheit mit solchen Themen auseinandersetzen wollen. In diesen Bereichen werden wir besondere Angebote machen. Unsere Schwerpunkte werden in der Digitalisierung, Gesundheitssystemforschung und interprofessionellen Ausbildung liegen. Betrachte ich die Bewerberzahlen für unsere ersten ausstehenden Professuren, erlebe ich die Zugkraft bereits. Es bietet sich ein völlig anderes Bild als noch vor fünf Monaten. Wie auch an anderen Standorten war es bisweilen schwierig, Chefarztpositionen zu besetzen. Jetzt, kurz nach der Umwandlung zur Universitätsklinik, sieht das ganz anders aus. Wir können wirklich auswählen, wer zu uns passt und wer Lust hat, bei diesem Projekt mitzuarbeiten.
Wir möchten hier junge Menschen anziehen, die eine klare Vorstellung davon haben, dass das Medizinstudium, das Arztsein etwas ist, das eng mit anderen Gesundheitsberufen verknüpft ist.
Im Universitätsmedizingesetz des Landes Brandenburg wird klar formuliert, dass die MUL-CT ein digitales Leitkrankenhaus in einer Modellregion Gesundheit-Lausitz werden soll. Was heißt das denn praktisch? Was soll in Zukunft an Projekten umgesetzt werden und wann kommt eine bessere Gesundheitsversorgung tatsächlich bei den Patienten an?
Das merken sie schon jetzt! Wir haben das große Glück, dass die vorbereitenden Kolleginnen und Kollegen in den vergangenen Jahren bereits Modelle weit entwickelt haben und diese schon umsetzbar sind. Am deutlichsten zu erkennen ist das an unserer neuen Notaufnahme, von der ich ganz unbescheiden behaupte, dass sie ist die modernste Europas ist. Dort kann man sehen, wie medizinische Versorgung durch einen sehr stringenten Prozess der wissenschaftlichen Analyse aller Handlungsabläufe sowie einer Reflexion der Bedürfnisse von Mitarbeitenden, Patienten und ihren Angehörigen baulich und strukturell umgesetzt werden kann. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie uns das bezüglich der medizinischen Versorgungsstrukturen für die Region gelingen kann. Die Notfallmedizin spielt natürlich auch eine ganz zentrale Rolle für die Menschen, dort erlebt man medizinische Versorgung. Wenn Sie in unsere Notaufnahme kommen, wird man im Schnitt innerhalb von zweieinhalb Stunden adäquat versorgt. Das ist in Deutschland in der Regel nicht der Fall.
Ist ein weiteres Projekt dieser Größenordnung für die Zukunft geplant?
Die Medizinische Universität Lausitz wird ein ganz zentrales Momentum in der Sicherung der Versorgung in der Fläche haben. Seit Mitte November haben wir einen Innovations- und Netzwerkrat mit Vertretern aller Institutionen der Selbstverwaltung, der Wissenschaft, mit politischen Entscheidungsträgern und Patientenvertretern. Auch das ist eine Besonderheit, die es so an keiner anderen Universität oder Fakultät gibt. Es ist sozusagen eine Vertretung der Region innerhalb der Universität. Mit diesem Innovations- und Netzwerkrat werden wir Projekte identifizieren, die für die Gesundheitsversorgung der Menschen von Bedeutung sind, und praktisch umsetzen.
In welche Richtung könnte das gehen?
Ein Beispiel ist die Betreuung von Schwangeren in der Region, die aufgrund von Fachkräftemangel künftig nicht mehr überall adäquat angeboten werden kann. Wir können und wollen nicht einfach alles in Cottbus übernehmen, sondern wir möchten vor Ort Patientenpfade beschreiben, die dort eine gleichbleibend gute Betreuung garantieren. Ein anderes Beispiel ist unser mobiles MRT, das an bestimmten Tagen an verschiedenen Standorten der Region genutzt werden kann. Wir gehen also zu den Menschen und holen sie nicht alle nach Cottbus. Das ist eine grundlegend andere Konstellation als wir sie von vielen anderen Standorten der Universitätsmedizin kennen. Wir sind durch neue Technologien in der Lage, vieles wieder in die Fläche zu bringen und die lokale Versorgung zu erhalten. Unser ganz besonderes Anliegen wird sein, dies in verschiedenen Modellprojekten zu demonstrieren. Wenn es uns nicht gelingt, Versorgungsstrukturen auf dem Land zu erhalten, werden wir sie später nicht mehr wiederbeleben können.
Sollen Fächer nach Cottbus geholt werden, die es bis jetzt noch nicht hier gab?
Das ehemalige Carl-Thiem-Klinikum war ein Krankenhaus der Maximalversorgung – jetzt wird es natürlich darum gehen, auch auf universitärem Niveau in Cottbus ein hochspezialisiertes Krankenhaus einzurichten und auszubauen. Wir wollen mit Dresden und Berlin absprechen, wie wir hier mit Blick auf Hochleistungsmedizin ein sinnvolles Dreieck konstruieren: Was können wir hier übernehmen, wann und in welcher Weise brauchen wir zum Beispiel ein auf seltene Erkrankungen spezialisiertes Zentrum in einer anderen Stadt? Das müssen wir in Zukunft zwischen diesen drei Standorten Dresden, Cottbus und Berlin neu verteilen.
Mehr zur Medizinischen Universität Lausitz – Carl Thiem
Die Ambitionen sind groß. In Cottbus wird an der neu gegründeten Medizinischen Universität Lausitz künftig nicht nur medizinischer Nachwuchs ausgebildet. Sie soll als digitales Leitkrankenhaus die Gesundheitsversorgung in der Region und in ganz Deutschland verbessern. In unserer Ausgabe 1/2025 (ET: 21. Februar) finden Sie in der Rubrik Unternehmen und Märkte eine ausführliche Reportage zur Gründungsgeschichte der neuen Universitätsmedizin.
Die Umwandlung von einem kommunalen Krankenhaus in ein Universitätsklinikum erfordert einen Kulturwandel. Wie soll der denn in Cottbus eingeführt werden?
Es ist toll zu sehen, dass die Kolleginnen und Kollegen hier wirklich sehr positiv denken und auch stolz sind auf dieses Projekt. Im Rahmen des Übergangs der Trägerschaft von Kommune auf Land mussten alle Arbeitsverträge geändert werden. Die Frage war: Wie viele Menschen werden dagegen klagen? Es gibt keine einzige Person, die juristisch gegen den Trägerwechsel vorgegangen ist. Das zeigt, mit welcher Begeisterung die Leute zum Projekt stehen. Insofern bin ich, was den Kulturwandel angeht, sehr davon überzeugt, dass das, was wir hier machen wollen, von den Leuten mitgetragen wird. Das ändert aber nichts daran, dass die Arbeit in einem Universitätsklinikum sich sehr von der in einem kommunalen Krankenhaus unterscheidet. Das muss man lernen. Das ist kein einfacher und auch ein langwieriger Prozess. Es steht nicht mehr nur die medizinische Versorgung im Zentrum, sondern auch die Ausbildung von jungen Menschen für die medizinische Versorgung und die Forschung. Das ist eine andere Aufgabe, erfordert eine andere Mentalität. Das braucht Zeit.
Was hat Sie daran gereizt, Vorsitzender des Gründungsvorstands zu sein?
Ich habe schon einige Gründungen von Universitäten mitbegleiten dürfen – immer unter der Maßgabe, eine bessere medizinische Versorgung erreichen zu können. Dennoch war ich zunächst zurückhaltend, da ich in dieser Region bislang keine Erfahrungen gesammelt habe, die Menschen und Gesellschaftsstrukturen noch nicht gut kenne. Und doch: An erster Stelle geht es hier um die Frage, was Strukturwandel für die Region bedeutet. Ich war in Essen tätig und habe dort ebenfalls einen Strukturwandel – den Steinkohleausstieg – sozusagen hautnah miterlebt. Ich konnte nach vielen Gesprächen feststellen, dass es sich in der Lausitz um eine vergleichbare Situation handelt: Eine Transformation aus einer sehr angestammten und mit viel Identifikation verbundenen Arbeits- und Lebenskontextualisierung hin zu einem „Wo soll es hingehen?“. Der Gedanke, dass die Modellregion Gesundheit Lausitz eine neue gemeinschaftliche Identität bieten kann, spielt dabei eine wirklich faszinierende Rolle. Das ist ein sehr spannendes, sehr herausforderndes, aber auch exzeptionelles Vorhaben, an dem ich mich gerne beteilige.





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