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Inklusive Medizin„Ein Tropfen auf den heißen Stein“

Die medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung ist noch nicht dort, wo sie sein sollte. Wieso es wichtig ist, das Thema in der gesamten Ärzteschaft voranzubringen, erläutert Prof. Dr. Tanja Sappok im Gespräch mit kma. Sie besetzt Deutschlands erste Professur für Medizin für Menschen mit Behinderung.

Wie sieht aktuell die medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderungen aus?

Prof. Dr. Tanja Sappok: 2015 hat der Gesetzgeber mit den medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung einen neuen Versorgungszweig in der ambulanten Versorgung für Menschen mit kognitiver Einschränkung oder komplexen Mehrfachbehinderungen geschaffen. Seitdem entwickelt sich in der gesamten Ärzteschaft etwas – es entsteht ein Interesse, es gibt Fortbildungsangebote für Medizinerinnen und Mediziner, viele karitative oder kirchliche Träger eröffnen solche Behandlungszentren, von denen es inzwischen über 50 in ganz Deutschland gibt. Im stationären Bereich hingegen sind die Rahmenbedingungen in den letzten zwei, drei Jahren unter Corona-Bedingungen noch schwieriger geworden. Generell ist die Lage in den Krankenhäusern aus wirtschaftlichen und personellen Gründen so angespannt, dass die zeitaufwändigere, komplexere und schwierigere Versorgung von Menschen mit Behinderungen zunehmend herausfordernd wird.

Wie viele spezielle Abteilungen gibt es denn in Krankenhäusern?

Ich schätze, wir reden deutschlandweit von einer Größenordnung von etwa 30. Meist sind diese Abteilungen allerdings nur auf bestimmte Krankheitsbilder spezialisiert. Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Das Berliner Behandlungszentrum für psychische Gesundheit bei Entwicklungsstörungen, in dem ich bisher gearbeitet hatte, deckt beispielsweise einen Großteil des nordostdeutschen Raums ab.

Gibt es andere Länder, in denen die Versorgungslage besser aussieht?

In Großbritannien ist das Gesundheitswesen im Wesentlichen staatlich organisiert. Dort gibt es aufsuchende Dienste, wo Ärztinnen und Ärzte mit den Behandlungsteams direkt zu den Personen vor Ort fahren und dort die Behandlung vornehmen. Das ist für Menschen mit Behinderung viel angenehmer. Die Informationen, die für die Behandlung der Patientinnen und Patienten auf diese Weise gewonnen werden können, sind viel reichhaltiger. Auch in den Niederlanden ist man deutlich weiter, dort gibt es staatlich organisierte Gesundheitszentren jenseits des Krankenkassensystems, speziell für Menschen mit Behinderung. In diesen stehen ganze Teams für die Behandlung zur Verfügung, das beinhaltet auch spezialisierte Ärztinnen und Ärzte mit Spezialisierung im Bereich der Behindertenmedizin. Das bietet eine ganz andere Qualität als in Deutschland, wo gewissermaßen alles auf Eigenmotivation gesetzt wird. In Finnland geht die Regierung noch einen Schritt weiter. Da werden für Menschen mit Behinderungen die Gesundheitsfürsorge und die Eingliederungshilfe zusammengelegt, so dass Gesundheit, Leben und Wohnen und alles Weitere aus einem Topf finanziert werden. Dadurch sind die Zuständigkeitsbereiche geklärt und die Gesundheitsversorgung wird auf ganz andere Füße gestellt.

Die Universität Bielefeld hat im vergangenen Jahr die in Deutschland erste Professur für „Medizin für Menschen mit Behinderung, Schwerpunkt psychische Gesundheit“ gegründet. Anfang dieses Jahres ist Prof. Dr. Tanja Sappok die Stelle angetreten. Die Fachärztin für Neurologie, Nervenheilkunde und Psychiatrie und Psychotherapie ist zudem Direktorin der neuen Universitätsklinik für Inklusive Medizin am Krankenhaus Mara der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Zuvor war Tanja Sappok Chefärztin des Behandlungszentrums für psychische Gesundheit bei Entwicklungsstörungen am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge in Berlin.

An welcher Stelle könnte man ansetzen, um die Versorgung in deutschen Krankenhäusern für Menschen mit Behinderungen zu verbessern?

Grundsätzlich muss man den im Krankenhaus Tätigen abverlangen, dass sie sich als Dienstleister verstehen – als Dienstleister an der Gesundheit des Menschen. Nicht der Mensch muss sich unserem System anpassen, sondern das System muss sich dem Menschen anpassen. Denn noch immer ist die Lebenserwartung von Menschen mit einer kognitiven Einschränkung 20 Jahre niedriger als bei Menschen ohne Behinderung. Es gibt Untersuchungen, die gezeigt haben, dass 30 bis 50 Prozent der Todesfälle durch eine optimierte Gesundheitsversorgung vermeidbar wären. Oft gehen die Betroffenen aufgrund schlechter Erfahrungen gar nicht erst zum Arzt, wodurch die Behandlung deutlich verzögert wird. Oder die Zugangswege in die medizinische Versorgung sind erschwert. Auch die Behandlung selbst wird teilweise weniger umfassend durchgeführt als bei Menschen ohne Behinderungen. In Bezug auf Schmerzen zeigen Studien, dass Menschen mit Behinderungen häufig an Schmerzen leiden, die nicht adäquat behandelt werden. Entweder, weil die Ursache der Schmerzen nicht behandelt wird oder die Schmerzbehandlung selbst nicht ausreichend ist.

Woran liegt das?

Zwei Dinge sind sicherlich wichtig: Das eine ist Zeit. Menschen mit Behinderung brauchen mehr Zeit und diese ist einfach knapp. Der Druck auf die im Gesundheitswesen Tätigen ist enorm. Das zweite ist Angst und Unsicherheit auf Seiten der Versorgenden. Sich in kurzer Zeit in komplexe Fälle einzuarbeiten und dem gerecht zu werden, ist anspruchsvoll. Vielen fehlen auch Grundkenntnisse in der Leichten Sprache und Unterstützen Kommunikation. Es braucht eine gewisse Erfahrung und Wissen, um die medizinische Behandlung erfolgreich durchführen zu können.

Wie kann eine bessere Grundlage für Ärztinnen und Ärzte geschaffen werden?

Dafür braucht es Begegnungsräume, schon im Studium und in den Praxisanteilen des Medizinstudiums, um Berührungsängste abzubauen und Sicherheit im Umgang mit Menschen mit Behinderungen zu gewinnen. Vieles hängt am Selbstverständnis der Ärztinnen und Ärzte. Deshalb ist meine Hoffnung, dass sich durch die Integration des Fachgebiets ins Medizinstudium einiges ändert. Dass an der Universität Bielefeld Ärztinnen und Ärzte ausgebildet werden, die sich freuen, wenn ihnen ein Patient mit Behinderungen begegnet. Denn das sind hochkomplexe Fälle, die medizinisch gesehen sehr spannend und menschlich gesehen sehr erfüllend sind.

Ist das bis jetzt denn noch nicht in der medizinischen Ausbildung verankert?

Medizin für Menschen mit Behinderung ist kein eigenes Fachgebiet und es gibt daher an den Universitäten wissenschaftlich und von der Ausbildung her bisher keinen Raum dafür. Dabei ist es erforderlich, eine gute Ausbildung sicherzustellen – denn jeder Arzt, jede Ärztin begegnet Menschen mit Behinderungen. Es gibt eine halbe bis eine Million Menschen in Deutschland, die eine geistige oder komplexe Mehrfachbehinderung haben. Nahezu alle von ihnen haben weitere körperliche Krankheiten. Jeder Dritte hat eine psychische Krankheit, die behandlungsbedürftig ist. Und die meisten haben acht bis zehn weitere Krankheitsbilder. Es handelt sich um eine multimorbide Patientengruppe.

An der Universität Bielefeld wurde die in Deutschland erste Professur für „Medizin für Menschen mit Behinderung“ geschaffen. Was wollen Sie als Professorin in den kommenden Jahren erreichen?

Einerseits möchte ich ein fundiertes Lehrkonzept für Medizin für Menschen mit Behinderungen entwickeln, basierend auf dem Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog für Medizin und den Erfahrungen aus dem europäischen Ausland. Zusätzlich möchte ich in einer Art Thinktank Betroffene und Angehörige mit einbeziehen – was brauchen sie von Ihrem Arzt, Ihrer Ärztin, um sich gut behandelt zu fühlen? Aus diesen drei Säulen entwickeln wir einen strukturierten Lehrplan, der in einen Modellstudiengang für Medizin integriert wird. Meine Hoffnung ist, dass das Lehrkonzept auch für andere Universitäten attraktiv ist und deutschlandweit weitere Lehrstühle entstehen.

Das Zentrum für Behindertenmedizin im Krankenhaus Mara wird zur Universitätsklinik für Inklusive Medizin weiterentwickelt. Werden dort nun andere Strukturen aufgebaut?

Wir haben uns entschieden, den Campus für diesen Bereich nach Mara zu legen, so dass die Medizinstudierenden dort hinkommen werden, dort Seminarräume entstehen und eine Infrastruktur für die Forschung angesiedelt wird. Man ist dann also mittendrin. Ich denke, die Barrieren, dort Praxissemester zu machen, zu famulieren oder zu promovieren, werden dadurch gesenkt und die Lust an der Thematik gestärkt. Gegenwärtig werden in Mara nur Personen mit internistischen und chirurgischen Krankheitsbildern behandelt. Mit meinem Start werden wir zudem psychiatrische Krankheitsbilder behandeln. Mein Ziel ist es, in dieser Klinik den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und die drei Fachrichtungen um ihn herum anzuordnen, indem gemeinsame Visiten, Fallkonferenzen, Fortbildungen und Projekte organisiert werden. Ich möchte das Parallelarbeiten der verschiedenen Fachrichtungen im Krankenhauswesen aufhebeln, so dass man gemeinsam an einem Fall arbeitet und die Behandlungsplanung durchführt.

Und wie ist Ihr Blick in die Zukunft?

Ganz wichtig ist, dass der Gesetzgeber Strukturen entwickelt und ausbaut, die eine bessere Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderungen ermöglichen. Das betrifft einerseits die Vergütung, andererseits auch die Versorgungsstrukturen selbst. Als Vorstandsmitglied der Fachgesellschaft Deutsche Gesellschaft für seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung (DGSGB) vertrete ich die Belange von Menschen mit Behinderungen in der stationär-psychiatrischen Behandlung beim gemeinsamen Bundesausschuss. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat mich zu einer Expertenbefragung zur Versorgungsgerechtigkeit in Deutschland eingeladen. Ich merke, es kommt Bewegung in dieses Thema. Und eine Universitätsprofessur, gemeinsam mit den Medizinstudierenden und dem Wissenschaftsleben, wird dies weiter beflügeln.

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