Georg Thieme Verlag KGGeorg Thieme Verlag KG
Georg Thieme Verlag KGGeorg Thieme Verlag KG

Baden-WürttembergAntibiotika in Krankenhäusern – falsch oder nicht gezielt genug

Eine Studie der Universität Freiburg attestiert Krankenhäusern Mängel bei Verordnungen von Antibiotika. GKV-Zahlen zeigen einen alarmierenden Umgang mit Reserveantibiotika. Besonders gefährlich: Flourchinolone.

Frau im Rollstuhl
K. Oborny/Thieme
Reserveantibiotika wie Fluorchinolone können schwere Nebenwirkungen auslösen und Menschen dauerhaft schwer krank machen.

Der Einsatz von Antibiotika hat in Baden-Württemberg 2023 ein außerordentlich hohes Niveau erreicht, wie aus einer Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK hervorgeht. Demnach sind bei der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) 4,1 Millionen Packungen Antibiotika abgerechnet worden, das sind deutlich mehr als in den Vorjahren und sogar mehr als 2019, also der Zeit vor der Pandemie. Zum Vergleich: 2,8 Millionen Abrechnungen waren es laut AOK 2021, etwa 3,6 Millionen im Jahr 2022. Die Analyse berücksichtigt nur Antibiotika, die zulasten der GKV abgerechnet wurden.

Sorgenfall Reserveantibiotika

Ein besonderes Augenmerk richtet sich stets auf die sogenannten Reserveantibiotika. Sie kommen als letzte Therapieoption bei schweren Infektionen zum Einsatz, dann also, wenn Infektionen durch ansonsten nicht mehr behandelbare multiresistente Bakterien ausgelöst werden. Ziel sollte es sein, Reserveantibiotika möglichst sparsam zu verordnen, um keine weiteren Resistenzen zu fördern. Deshalb sei es auch „besonders alarmierend“, dass in Baden-Württemberg 2023 1,9 Millionen Reserveantibiotika verordnet wurden – ein Höchststand, teilte die AOK mit. Reserveantibiotika machten im Südwesten bereits 46,6 Prozent aller Antibiotikaverordnungen aus. Dieser Wert liege deutlich über dem Bundesdurchschnitt von 43,4 Prozent.

Warnung vor Fluorchinolonen

Zu den Reserveantibiotika zählen auch die Fluorchinolone. Dr. Stefan Pieper, Allgemeinmediziner aus Konstanz forscht seit Jahren zu Fluorchinolon-Nebenwirkungen. Im Dokumentarfilm „Chronisch krank, chronisch ignoriert“, der noch bis 26. März in der Arte-Mediathek läuft, beschreibt er den Zusammenhang von Fluorchinolon-Einnahmen und schweren chronischen Multisystemerkrankungen, wie der Myalgischen Enzephalomyelitis (ME).

Fluorchinolone, wie Ciprofloxacin, Ofloxacin, Levofloxacin oder Norfloxacin sind sogenannte Reserveantibiotika. In den USA gibt es für Patienten bei diesen Antibiotika eine sogenannte „Black-Box-Warnung“. Boxed Warnings erscheinen auf dem Etikett eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels und sind die schärfste Form der Warnung, die von der FDA für die Kennzeichnung verschreibungspflichtiger Arzneimittel vorgeschrieben ist. Sie sollen auf ernste oder lebensbedrohliche Risiken aufmerksam machen. Der Warnhinweis wird in einem schwarz umrandeten Kasten dargestellt und befindet sich auf dem Etikett des Arzneimittels sowie auf allen Packungsbeilagen.

In Europa werden Fluorchinolone noch außerhalb der empfohlenen Verwendungszwecke verordnet. Deshalb gab die Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) 2023 einen Reminder an die Ärzteschaft heraus. Ärzte in Deutschland wurden schon 2019 in einem sogenannten Rote-Hand-Brief des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) über die schwerwiegenden Nebenwirkungen informiert und sollen, wenn Therapiealternativen vorliegen, Fluorchinolone nicht mehr verordnen.

Nur nötig, wenn nichts anderes hilft

„Wenn fast jedes zweite verordnete Antibiotikum ein Reserveantibiotikum ist, kann von Reserve keine Rede mehr sein“, kritisiert Arzneimittelexperte Frank Wienands von der AOK Baden-Württemberg. „Ihr Einsatz in diesem Maß erhöht die Gefahr von Resistenzen, was die Behandlung lebensbedrohlicher Infektionen erheblich erschweren kann.“ Reserveantibiotika sollten nur dort verordnet werden, wo nichts anderes helfe, sagte Wienands. Das ist laut AOK der Fall beim Nachweis multiresistenter Erreger oder bei schweren, potenziell tödlich verlaufenden Infektionen, wenn der Erregernachweis nicht abgewartet werden kann.

Wenn fast jedes zweite verordnete Antibiotikum ein Reserveantibiotikum ist, kann von Reserve keine Rede mehr sein.

Eigentlich waren die Verordnungen für die Bakterienbekämpfer deutschlandweit seit 2014 zurückgegangen. Seit 2022 steigt die Zahl wieder. 2023 wurden bei der GKV bundesweit 36,1 Millionen Packungen Antibiotika abgerechnet, rund 18 Prozent mehr als 2022 (rund 30,5 Millionen).

Sinnlos aber dennoch verordnet: Antibiotika bei Erkältungen

Wienands sieht bei dem Trend vor allem die Ärzte in der Verantwortung: „Oft wird ein Antibiotikum verordnet, ohne zuvor zu testen, ob das verordnete Antibiotikum überhaupt hilft“, sagt er der Deutschen Presse-Agentur.

Oft wird ein Antibiotikum verordnet, ohne zuvor zu testen, ob das verordnete Antibiotikum überhaupt hilft.

Teilweise erhielten Patienten auch bei normalen Erkältungen wieder mehr Antibiotika. Es ist seit Jahrzehnten bekannt, dass das sinnlos ist. Denn eine einfache Erkältung mit Symptomen wie Husten, Schnupfen und manchmal leichtem Fieber wird normalerweise durch Viren verursacht und heilt von selbst aus.

Antibiotika in Krankenhäusern: Falsche Verschreibungen

Hier setzt auch die Kritik des Universitätsklinikums Freiburg an: Sie attestiert Krankenhäusern in einer Studie deutliche Mängel bei der Verschreibung von Antibiotika. Für ihre Studie haben die Forschenden zehn Krankenhäuser in Baden-Württemberg untersucht. Ihr Fazit: Oft werden Antibiotika falsch oder nicht gezielt genug verschrieben. Jeder dritte Patient erhalte im Krankenhaus mindestens ein Antibiotikum. Oft würden Breitbandantibiotika bevorzugt, obwohl in jedem zweiten Fall ein Mittel mit schmalerem Wirkspektrum möglich gewesen wäre, heißt es in der Studie aus dem Jahr 2021, deren Ergebnisse im vergangenen November vorgelegt wurden.

Die Kassenärztliche Vereinigung verteidigt hingegen die Mediziner: „Nach unserer Einschätzung gehen unsere Ärztinnen und Ärzte im Großen und Ganzen durchaus verantwortungsvoll mit der Verordnung von Antibiotika und Reserveantibiotika um“, sagt Kai Sonntag, Sprecher der Kassenärzte-Vertretung. Es gebe zudem einen Austausch mit den Praxen. Ärzten sei daran gelegen, Informationen über ihr Verordnungsverhalten zu bekommen, um vielleicht nachjustieren und korrigieren zu können.

Antibiotika werden nicht schnell genug entwickelt

Das Problem bleibt: Je häufiger Bakterien mit einem bestimmten Antibiotikum in Kontakt kommen, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie resistent gegen dieses Antibiotikum werden und das Medikament seine Wirkung verliert. Nach Angaben des noch amtierenden Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD) nimmt die Zahl von solchen Resistenzen schneller zu, als neue Antibiotika entwickelt werden. Letzteres ist ein chronischer Engpass im globalen Gesundheitswesen: Die Einführung neuer Antibiotika ist relativ teuer. Die Gewinnmargen sind aber eher bescheiden. Deswegen sind viele Pharmakonzerne bei der Entwicklung zurückhaltend. In den vergangenen zehn Jahren waren lediglich neun von 362 neuen Wirkstoffen auf dem Markt Antibiotika.

Die baden-württembergische Landesregierung will deshalb mehr Tempo bei der Entwicklung neuer Antibiotika. Ziel müsse die langfristige Versorgungssicherheit mit wirksamen Arzneimitteln sein, sagte Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne). Es müsse Anreize für die pharmazeutische Industrie geben, um innovative, wirksame Antibiotika zu entwickeln. Wichtig sei es aber auch, etwa die Diagnostik zu verbessern und Ärzte für den richtigen Einsatz von Antibiotika zu sensibilisieren.

Sortierung
  • Derzeit sind noch keine Kommentare vorhanden. Schreiben Sie den ersten Kommentar!

    Jetzt einloggen