Georg Thieme Verlag KGGeorg Thieme Verlag KG
Georg Thieme Verlag KGGeorg Thieme Verlag KG

Post Covid und ME/CFSFalsches Krankheitsverständnis von Ärzten und Ärztinnen

ME/CFS ist die schwere Form von Post-Covid. Sie betrifft auch Kinder und Jugendliche. Wie ein falsches Krankheitsverständnis von Ärztinnen und Ärzten das Leiden der Betroffenen verstärkt. 

Martin Schebek
Deutsche Rentenversicherung Rheinland-Pfalz
„Es hat eine Zeit lang gedauert, bis wir uns als Haus dem Krankheitsbild genähert haben“, sagt Martin Schebek, Ärztlicher Direktor der Edelsteinklinik Bruchweiler.

Jung, leistungsbereit und erschöpft: Zahlreiche Kinder und Jugendliche leiden unter den Spätfolgen von Corona. Besonders scheint es junge Frauen zu treffen. Antonia ist eine von ihnen. Weil sie so viele schlechte Erfahrungen mit Ärztinnen und Ärzten gemacht hat, möchte sie Medizin studieren. Um es besser zu machen.

Hausärztin schiebt Beschwerden auf die Psyche

Antonias Stimme ist leise, aber entschlossen. Mit einem dicken Aktenordner auf dem Schoß berichtet die 17-Jährige in einem Zimmer der Edelsteinklinik in Bruchweiler bei Idar-Oberstein von ihrer Leidensgeschichte. Das Mädchen aus dem Landkreis Greiz in Thüringen hat sie aufgeschrieben – um sich an alles zu erinnern.

Nach ihrer Impfung gegen das Coronavirus im Dezember 2021 beginnen im Januar 2022 Antonias Magen-Darm-Probleme. Im Januar 2023 erkrankt sie an Covid-19. Die Hausärztin schiebt ihre Beschwerden auf die Psyche. Antonia entwickelt diverse Allergien und Nahrungsmittelunverträglichkeiten, die sie zuvor nie hatte. Ihr ist übel, sie muss sich häufig übergeben. Insgesamt verliert das junge Mädchen zwölf Kilo Gewicht.

Die Hausärztin hat mir nicht geglaubt, da ich ein sehr leistungsorientierter Mensch bin und in der Schule sehr engagiert war.

„Die Hausärztin hat mir nicht geglaubt, da ich ein sehr leistungsorientierter Mensch bin und in der Schule sehr engagiert war“, erzählt das Mädchen mit einem fast schon entschuldigenden Lächeln. Die Psychologen, die Antonia besucht, bestätigen ihr, dass ihre Psyche zwar leide, allerdings unter der aktuellen Situation. Sie sehen die Psyche nicht als Ursache für Antonias Zustand.

Irgendwann kommt einer der Behandelnden auf die Idee, einen Steh-Test zu machen. Dabei muss man sich abwechselnd fünf beziehungsweise zehn Minuten hinlegen und wieder aufstehen, der Puls wird kontrolliert. Der Test fällt negativ aus. Und nicht nur das. Antonia erlebt ihren ersten „Crash“, eine Art Zusammenbruch, nach dem sie sich unfähig fühlt, sich auch nur aus dem Bett zu erheben. „Seither ist es manchmal schon das Zähneputzen, was mich aus den Latschen haut“, sagt Antonia.

Damit hatte „das Gespenst“ jedoch „einen Namen“, wie Antonia sagt: Post Covid beziehungsweise Post-Vac, eine durch die Impfung hervorgerufene Reaktion des Immunsystems. Ihre Hoffnung: eine Reha in der Edelsteinklinik in Bruchweiler im Landkreis Birkenfeld. Eine Einrichtung der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Rheinland-Pfalz, die sich auf Kinder und Jugendliche spezialisiert hat. Neben Antonia sind im Juni 2024 sieben Patienten und Patientinnen mit Post Covid hier untergebracht. 120 Kinder und Jugendliche behandelte die Klinik im vergangenen Jahr wegen Corona-Spätfolgen.

„Nach der Impfung ist die Immunologie etwa die gleiche wie nach einer Infektion“, erklärt der Kinderneurologe Dr. Wolfgang Broxtermann, der Antonia betreut. Deutschlandweit hätten viele Patienten und Patientinnen so wie Antonia nach der Impfung, aber auch nach einer Corona-Erkrankung ein chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) entwickelt.

ME/CFS

Die schwere neuroimmunologische Erkrankung geht in der Regel mit Kopf-, Hals-, Muskelschmerzen, geschwollenen Lymphknoten sowie Gedächtnis- und Konzentrationsproblemen einher. Typisch ist hier den Experten zufolge außerdem eine Verschlechterung der Symptome nach einer Belastung. Manchmal kommt nach Stunden, manchmal am darauffolgenden Tag der sogenannte Crash, so wie bei Antonia.

Broxtermann geht von 80 000 jugendlichen Patienten mit ME/CFS aus

Wie häufig Kinder und Jugendliche von Post Covid und von Impfschäden betroffen sind, lässt sich nur schätzen. „Es gibt keine gesicherten Zahlen, nur Hochrechnungen“, erklärt Broxtermann. Er geht von etwa 80 000 jugendlichen Patienten mit ME/CFS in Deutschland aus.

Sowohl die Zahl der Betroffenen als auch die Versorgungssituation von Kindern in Rheinland-Pfalz ist wenig transparent.

Sowohl die Zahl der Betroffenen als auch die Versorgungssituation von Kindern in Rheinland-Pfalz sei wenig transparent, sagt Prof. Dr. Stephan Gehring, Sektionsleiter der Pädiatrischen Intensivmedizin, Infektiologie und Gastroenterologie am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. „Sicher werden einige Kinder in Spezialambulanzen wie Neuropädiatrie oder Sozialpädiatrie versorgt, aber dies folgt keinem festen Schema, es gibt keine eindeutig zugeordnete Expertise oder personelle Ressourcen.“ 

Ob Kinder und Jugendliche häufiger oder weniger häufig erkranken als Erwachsene ist ebenfalls nicht sicher. Fest steht laut Broxtermann: Frauen und Mädchen sind wegen ihres anderen Immunsystems häufiger betroffen als Männer und Jungen. Und mit steigendem Lebensalter nimmt die Zahl der Betroffenen etwas ab. In Rheinland-Pfalz sind bislang 651 Anträge wegen möglicher gesundheitlicher Schäden nach einer Corona-Impfung gestellt worden – 16 Fälle wurden positiv entschieden. Das teilt das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung der Deutschen Presse-Agentur mit. Daten zu Kindern und Jugendlichen, die einen Antrag auf Anerkennung eines Impfschadens gestellt haben, werden allerdings nicht erhoben.

Die DRV Rheinland-Pfalz hat im Jahr 2022 836 Reha-Maßnahmen wegen Post-Covid bei Kindern und Jugendlichen genehmigt, 2023 lag die Zahl bei 325. Die DRV engagiere sich in diesem Bereich, weil chronische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter die schulischen Leistungen und den Einstieg in den Beruf belasteten – mit negativen Folgen für das gesamte Berufsleben, sagt Hans-Georg Arnold, Sprecher der Deutschen Rentenversicherung Rheinland-Pfalz. In der Reha lernen Kinder und Jugendliche, mit chronischen Erkrankungen besser umzugehen. „Das hilft ihnen auch in der Schule und gibt ihnen bessere Startchancen im Beruf. Denn eine gute Ausbildung ist der Grundstein für eine gute Absicherung später im Alter.“

Antonia war seit Februar 2023 nicht mehr in der Schule, hat aber die 10. Klasse trotzdem mit sehr gutem Ergebnis abgeschlossen. Als sie voll motiviert in die 11. Klasse einsteigen will, ist sie schon am Mittwoch der ersten Woche „breit“, wie sie es nennt. Jetzt nimmt sie in der Klinik am Unterricht teil und will den Stoff der 11. Klasse vorarbeiten, um ab Sommer so gut es geht den Schulalltag zu meistern.

Ich fühle mich nach jedem Tag, als wäre ich einen Marathon gelaufen, für den ich nie trainiert habe.

„Ich fühle mich nach jedem Tag, als wäre ich einen Marathon gelaufen, für den ich nie trainiert habe“, beschreibt Antonia ihre aktuelle Situation und vergleicht sich mit ihrer 65 Jahre alten Oma, die leistungsfähiger ist als sie.

Immer wieder sonntags bekommt Antonia einen festen Therapieplan. Darin: Ergotherapie, Krankengymnastik, Bewegungsbad, Haltungsturnen, Entspannung, Konzentrationstraining, Ergometer-Training. „Sobald mir was zu viel wird, darf ich das streichen“, sagt sie. Ziel ist es, ihre Belastbarkeit wiederherzustellen und mehr Bewegung ohne Erschöpfung zuzulassen. Nach Angaben der Ärzte unterscheiden sich die Therapiepläne von Post-Vac- und Post Covid-Patienten nicht.

Die Vermeidung von Rückschlägen macht die Hälfte der Therapie aus.

„Aktuell geht es mir gut damit, aber das ist auch das Heimtückische“, sagt Antonia. „Vielleicht übernehme ich mich gerade und bekomme in zwei Wochen die Rechnung dafür.“ Denn die „Crashs“ kommen bei Antonia zeitversetzt. „Die Vermeidung von Rückschlägen macht die Hälfte der Therapie aus“, erläutert Broxtermann. Die Überanforderung, das ständige Triggern, müsse aufhören. „Wir haben hier manchmal große Schwierigkeiten, die jungen Menschen aus dem Leistungsdenken rauszubekommen und sie zu bremsen“, sagt der Kinderneurologe. 95 Prozent der Kinder und Jugendlichen könnten ihr Leben nach der Reha fortsetzen, allerdings dauere es fünf bis 15 Jahre, bis sie wieder mitten im Leben stünden.

Auch ich gehörte lange Zeit zu den Ärzten, die dachten, es sei hauptsächlich die Psyche betroffen.

„Es hat eine Zeit lang gedauert, bis wir uns als Haus dem Krankheitsbild genähert haben“, sagt Martin Schebek, Ärztlicher Direktor der Edelsteinklinik Bruchweiler. „Auch ich gehörte lange Zeit zu den Ärzten, die dachten, es sei hauptsächlich die Psyche betroffen und man behandle im Grunde Depressionen.“ Einem depressiven Menschen versuche man eher einen Kick zu geben, ihn zu motivieren. Menschen mit ME/CFS müssen nicht motiviert werden, sie wollen, können aber nicht, weil die Kraft fehlt. „Was Antonia passiert ist, war keine Bösartigkeit der Ärztinnen und Ärzte, sondern ein falsches Krankheitsverständnis.“

Was Antonia passiert ist, war keine Bösartigkeit der Ärztinnen und Ärzte, sondern ein falsches Krankheitsverständnis.

Und Antonias größter Wunsch für die Zukunft? Sie möchte ihr Abitur machen und Medizin studieren. Antonia sagt: „Ich habe so viele schlechte Erfahrungen mit Ärztinnen und Ärzten gemacht, ich möchte es besser machen.“

Sortierung
  • Derzeit sind noch keine Kommentare vorhanden. Schreiben Sie den ersten Kommentar!

    Jetzt einloggen