
Im Herbst konstatierte der Bundesverband Medizintechnologie e.V. (BVMed), dass sich die Stimmung in der deutschen Medizintechnikbranche eingetrübt habe. Die erwartete Umsatzentwicklung im Inland sei mit einem Wachstum von 3,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr mit 4,2 Prozent stark rückläufig. Die Unternehmen fürchten abnehmende Gewinne aufgrund sinkender Preise und höherer Kosten. International tätige Medtech-Unternehmen profitieren weiterhin stark vom Export: Die Branche erwartet für das Jahr 2019 im Ausland ein Umsatzwachstum von 5,8 Prozent. So lautet das Ergebnis der BVMed-Herbstumfrage, an der sich 102 Mitgliedsunternehmen des Branchenverbandes beteiligt haben. Für das Jahr 2019 rechnen 86 Prozent dieser Unternehmen mit einem weltweit besseren Umsatzergebnis als im Vorjahr.
Auch Spectaris beobachtet die Marktzahlen für Medizintechnikunternehmen genau. Bei der Medica im November in Düsseldorf präsentierte der Industrieverband für den Zeitraum Januar bis August 2019 ein kräftiges Umsatzplus von 9,8 Prozent. Die Spectaris-Zahlen basieren auf Angaben des Statistischen Bundesamtes zum Umsatz von 471 deutschen Medizintechnikherstellern mit mehr als 50 Beschäftigten und spiegeln nur den genannten Zeitraum wider“, erklärt Marcus Kuhlmann, der den Spectaris-Fachverband Medizintechnik leitet. „Wie sich das Gesamtjahr entwickeln wird, können wir nur bedingt einschätzen, ein Tertial steht ja noch aus. Frost and Sullivan erwartet einen Anstieg des Weltmarktes um 5,6 Prozent in diesem Jahr.“
Zu den Hauptzielländern der deutschen Medizintechnik-Exporte zählen mit Abstand die USA mit einem Volumen von rund vier Milliarden Euro, gefolgt von China mit einem Volumen von knapp zwei Milliarden Euro. Für weitere gut vier Milliarden Euro geht Medizintechnik nach Frankreich, die Niederlande und Italien. Insgesamt fließt über die Hälfte der deutschen Medizintechnikexporte in europäische Länder.
Bremsklotz MDR
Laut dem BVMed-Vorstandsvorsitzenden Dr. Meinrad Lugan sei der Hauptgrund für die aktuell trübe Stimmung in der Branche die neue EU-Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, MDR). Sie trage zu Engpässen bei den Benannten Stellen, längeren Bewertungsverfahren und steigenden Kosten bei. In der BVMed-Herbstumfrage befürchten 87 Prozent der Unternehmen, dass Produkte aus ökonomischen Gründen vom Markt genommen oder gar nicht erst auf den Markt gebracht werden. In der klein- und mittelständisch geprägten Branche könnten nach Schätzungen zehn Prozent der Unternehmen und 30 Prozent der Produkte verschwinden.
Damit die Unternehmen die zusätzlichen Anforderungen aus der EU-Medizinprodukteverordnung erfüllen können, müssten zusätzliche Stellen vor allem in regulatorischen Bereichen geschaffen werden. Dies könnte langfristig auf Kosten der Bereiche Forschung und Entwicklung gehen. Deshalb fürchtet der BVMed um die Innovationskraft der Branche. Im Durchschnitt investieren die Unternehmen neun Prozent ihres Umsatzes in Forschung und Entwicklung. Noch haben zwei Drittel der befragten BVMed-Unternehmen vor, ihre Ausgaben für Investitionen und die Forschung zu erhöhen oder zumindest auf Vorjahresniveau zu halten. Lugan weist darauf hin, dass die industrielle Gesundheitswirtschaft, insbesondere die Medizintechnik, inzwischen eine Schlüsselindustrie für die deutsche Volkswirtschaft sei – als Innovationsmotor und starker Arbeitsplatzfaktor. Nach den USA liegt Deutschland weltweit auf Platz zwei bei der Anzahl der Patentanmeldungen in dieser Branche.
Digitalisierung verleiht Flügel
Wie viele andere Branchen setzt auch die Medizintechnik auf die Digitalisierung. So veröffentlichte jüngst die Unternehmensberatung Roland Berger eine Studie zum digitalen Gesundheitsmarkt in Europa unter dem Titel „Future of Health: Eine Branche digitalisiert sich“. Demnach scheint der Markt für digitale Produkte und Dienstleistungen im Gesundheitswesen schneller voranzukommen als bislang vermutet. Bis zum Jahr 2025 soll das europaweite Marktvolumen circa 155 Milliarden Euro betragen. Rund 38 Milliarden Euro davon entfallen voraussichtlich auf Deutschland. Für die Studie haben die Berater 400 internationale Gesundheitsexperten interviewt. Sie sehen die Digitalisierung, insbesondere die Einführung von Künstlicher Intelligenz, als größten Treiber der Transformation. Den im Gesundheitsmarkt etablierten Unternehmen drohe dabei zunehmend Konkurrenz: zum einen durch branchenfremde Marktteilnehmer wie den großen Technologiekonzernen, zum anderen durch eine zunehmende Zahl an Start-ups, die mit innovativen Ideen in den Markt drängen.
Der digitale Wandel in der Medizintechnikbranche scheint allerdings noch Anlaufschwierigkeiten zu haben: Nur knapp ein Viertel der Unternehmen fühlt sich gut auf die Herausforderungen der Digitalisierung vorbereitet. Nicht einmal 30 Prozent investieren mehr als 2,5 Prozent ihres Umsatzes in Projekte zur Digitalisierung. So lautet das Ergebnis der Studie Gesundheit 4.0, an der 200 deutsche Medizintechnikunternehmen teilgenommen haben. Diese sehen die größten Chancen der Digitalisierung in verkürzten Entwicklungszeiten neuer Produkte und Dienstleistungen und einer verbesserten Produktivität. Auch die Bereiche Vertrieb und Services könnten stark profitieren. Einig sind sich die Unternehmer bei der Frage, welche digitale Anwendung das größte Potenzial verspricht. Die einhellige Antwort lautet: die elektronische Patientenakte als zentrale Schnittstelle zum Patienten.
Drei Fragen an Marcus Kuhlmann, Leiter Medizintechnik bei Spectaris
Worauf führen Sie die derzeitige positive Entwicklung der Umsatzzahlen zurück?
„Zur derzeitigen Umsatzentwicklung tragen einige Sondereffekte bei. Asien investiert derzeit sehr stark in den Ausbau seiner Gesundheitssysteme. Die Handelsstreitigkeiten zwischen USA und China führen zu vorgezogenen Medizintechnikkäufen – die deutschen Medizintechnikausfuhren nach China legten um 12 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zu.
Sowie Trump einen Tweet loslässt, gehen bei vielen die Verkaufszahlen hoch, weil alle Angst haben, der könnte mal Ernst machen. Das ist kein schöner Zustand, ein Unternehmen braucht Planungssicherheit. Auch im Vereinigten Königreich beobachten wir Hamsterkäufe, dort angesichts des Brexits. Unabhängig davon sind vorgezogene Medizintechnikkäufe, um einen möglichen Versorgungsengpass aufgrund der Auswirkungen der neuen europäischen Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, MDR), nicht auszuschließen. Das wirkt sich zwar momentan positiv auf die Umsätze aus, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die MDR schon bald negativ auf die wirtschaftliche Situation der Medtech-Unternehmen auswirken könnte.“
Müssen die Kliniken Lieferengpässe befürchten?
„Die Stimmung in der Medizintechnikbranche ist insbesondere im Hinblick auf die MDR sehr kritisch. Tausende Medizinprodukte verlieren ihre Zulassung und müssen nach MDR neu zertifiziert werden. Da auch die Benannten Stellen neu zertifiziert werden müssen, ist ein Flaschenhals zu befürchten: So sind erst sieben Benannte Stellen für die MDR neu notifiziert. Zum Vergleich: Im Mai dieses Jahres gab es 58 benannte Stellen, die nach der alten Medizinprodukterichtlinie (Medical Device Directive, MDD) Medizinprodukte zertifizieren konnten.“
Was ist in Ihren Augen erforderlich, um Lieferengpässe abzuwenden?
„Die zur Umsetzung der MDR notwendige Infrastruktur – ausreichende Anzahl an Benannten Stellen samt eines zügigen Ausbaus der Kapazitäten der Benannten Stellen – muss voll funktionsfähig sein. Dazu zählt auch die Eudamed-Datenbank (Anm. d. Red.: Ab Mai 2020 müssen sämtlich Medizinprodukte an die Eudamed-Datenbank gemeldet werden. Ihre Fertigstellung ist allerdings erst für Mai 2022 angekündigt.). Insbesondere muss die EU-Kommission endlich die Leitfäden erarbeiten und veröffentlichen, in denen beschrieben wird, wie die Anforderungen aus der MDR konkret umzusetzen sind.“
Das Interview führte Jana Ehrhardt-Joswig.





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