
Verhalten optimistisch – aber nicht ohne wachsende Sorgen, so könnte man die aktuelle Stimmung in den deutschen Unternehmen zusammenfassen. Die Ergebnisse der jüngsten Herbstumfrage des Branchenverbandes BVMed zeichnen ein ambivalentes Bild. Einerseits ist der Abwärtstrend bei den Umsätzen im deutschen Markt zunächst beendet. Diese sind mit 4,2 Prozent erstmals seit Jahren wieder stärker gewachsen als im Vorjahr (2,8 Prozent) und erreichten beim Umwachstum erneut das Niveau des Jahres 2015.
Gleichwohl glaubt die Mehrzahl der Unternehmen, dass sich trotz der aktuellen Umsatzentwicklung die Gewinnsituation im Inland „aufgrund sinkender Preise und höherer Kosten weiter verschlechtert“, sagte BVMed-Geschäftsführer Joachim M. Schmitt bei der Vorstellung der Umfrage, an der sich knapp die Hälfte der 225 Mitgliedsunternehmen des Verbandes beteiligte. Nur 24 Prozent erwarten in diesem Jahr im inländischen Geschäft höhere Gewinne, 35 Prozent rechnen mit einer rückläufigen Entwicklung, 40 Prozent mit Stagnation. Besser laufen hingegen erneut die Geschäfte im Ausland, wo das Umsatzwachstum wie schon in den Vorjahren konstant 5,9 Prozent beträgt.
Trotz leichter Warnzeichen sind die Geschäfte noch stabil, wie weitere Ergebnisse der Befragung zeigen. Rund ein Drittel der Firmen will seine Investitionen in den deutschen Produktionsstandort erhöhen sowie die Forschungsausgaben steigern. Die Investitionen in Forschung und Entwicklung liegen mit einem Anteil von neun Prozent am Gesamtumsatz weiterhin deutlich über denen vieler anderer Branchen. Auch die Jobentwicklung bleibt positiv. 51 Prozent der befragten Firmen haben 2018 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, nach 44 Prozent im Vorjahr.
Medizintechnikunternehmen halten MDR-Übergangsfristen für zu kurz
Gleichwohl blickt die gesamte Medtechbranche mit Sorge in die Zukunft, denn die schleppende Umsetzung der Europäischen Medizinprodukteverordnung (MDR, engl. für Medical Device Regulation) bereitet den Herstellern erhebliche Probleme und steigende Kosten. Die Richtlinie sieht einen strammen Zeitplan vor, der die Unternehmen vor große Herausforderungen stellt. Ab Mai 2020 sind danach die Regeln der MDR für Neuzulassungen verpflichtend, für alle Alt-Produkte laufen die Alt-Zertifikate im Jahr 2024 aus. Sie müssen spätestens 2025 aus dem Markt verschwinden – oder neu zertifiziert werden.
„Noch immer sind viele Fragen zur praktischen Umsetzung offen, die Probleme der Unternehmen angesichts der steigenden Bürokratie nicht gelöst“, kritisierte schon vor Veröffentlichung der BVMed-Herbstumfrage Dr. Martin Leonhard, Vorsitzender der Fachsparte Medizintechnik beim Industrieverband Spectaris. Nur wenige Tage später schob Prof. Dr. Theodor Doll, Leiter des Fraunhofer-Leistungszentrums für Translationale Medizintechnik, eine massive Warnung nach. „Eingeführt mit dem Ziel, die Patientensicherheit zu erhöhen, zeigt die MDR in ihrer jetzigen Form gravierende negative Effekte.“ Die Verordnung werde mittelfristig „zu einer Abwanderung in den FDA-geregelten amerikanischen Markt führen und den Innovationsstandort Deutschland zum Erliegen bringen“, so Prof. Doll bei der Vorstellung von Ergebnissen einer Marktumfrage, die die Wirtschaftsberatung Deloitte für Fraunhofer und mdr-competence durchgeführt hat.
Einer der Gründe für die wachsende Kritik der Branche ist der mit dem Inkrafttreten der MDR neu organisierte Zertifizierungsprozess. Die bisherige Listung der sogenannten Benannten Stellen, die für die Zulassung zuständig sind, ist hinfällig. Die Benannten Stellen müssen sich nun unter viel strengeren Regeln neu zertifizieren lassen, weshalb aufgrund der deutlich höheren Anforderungen die Zahl der Benannten Stellen in der EU von derzeit 59 drastisch sinken wird. Aktuell haben laut BVMed erst 21 Stellen ein Antrag zur Neubenennung gestellt. Bei 11 davon sei „eine Auditierung erfolgt – und nicht eine einzige hat bislang die Zulassung bekommen“, schilderte Dr. Joachim Wilke, Direktor Regulatory Intelligence bei Medtronic und Leiter des BVMed-Arbeitskreises Regulatory und Public Affairs, die aktuelle Situation.
Harter Brexit könnte die Situation weiter verschärfen
Bis Ende Mai 2019 würden erst 2 Benannte Stellen notifiziert sein. „Dann sind bereits zwei Drittel der Übergangsfrist verstrichen und ein Flaschenhals bei den Neuzertifizierungen absehbar. Die Übergangsfristen sind zu kurz und so nicht umsetzbar“, ergänzte Marc Michel, Geschäftsführer des fränkischen Endoprothetetik-Herstellers Peter Brehm und Vize-Vorstandschef bei BVMed. Zum Ende der Übergangsfrist im Mai 2020 rechnet der Branchenverband mit bestenfalls mit 25 Benannten Stellen – und selbst diese Zahl könnte möglicherweise der nahende Brexit durchkreuzen. Weil fünf der bisherigen Benannten Stellen in Großbritannien liegen, könnten die se bei einem harten Brexit im kommenden Frühjahr auch noch entfallen. Tritt dieser Fall tatsächlich ein, würden nach Verbandangaben rund ein Drittel aller derzeit existierenden Zertifikate schlagartig ihre Gültigkeit verlieren.
Doch auch der Aufwand für die MDR-Neuzertifizierung von teilweise seit Jahrzehnten verkauften Produkten ist immens und bringt viele Firmen der überwiegend mittelständisch geprägten Branche an ihre personellen Grenzen. Der Umfang der technischen Dokumentation und der klinischen Überprüfung ist für den neuen Zertifizierungsprozess enorm gewachsen. „Die technische Dokumentation für ein Medizinprodukt der Klasse 3 war bislang rund 600 Seiten stark. Nach MDR beträgt der Umfang etwa 6 000 Seiten“, kritisierte der BVMed-Vorstandsvorsitzende Dr. Meinhard Lugan.
Firmen müssen umfassende klinische Daten liefern
Ferner müssen die Firmen umfassende klinische Daten liefern, was den Unternehmen erhebliche Probleme bereitet. Sie müssen als Partner große Kliniken finden, die die geforderten wissenschaftlichen Ergebnisse liefern. Gerade bei Nischen- und Spezialprodukten hätten Kliniken daran aber kein Interesse, weil diese Studien aufgrund der geringen Zahl wissenschaftlich nicht verwertbar seien, sagte BVMed-Vize Marc Michel. Da dies für diese Produkte MDR möglicherweise das Aus bedeuten könnte, forderte Michel für die Produkte entweder eine „Fast Track Lösung“ oder Bestandsschutz.
Wie groß die Sorgen in den Firmen sind, belegen auch die Zahlen der Deloitte-Befragung. Danach würden 40 Prozent der Firmen bereits auf dem Markt befindliche Medizinprodukte aufkündigen, jedes 2. Unternehmen ist der Meinung, dass Produkte oder Produktlinien aufgrund der erhöhten Anforderungen eingestellt werden müssen. Die vehementen Warnungen der Industrie finden inzwischen aber offenbar Gehör bei der Bundesregierung und der EU-Kommission. Es gibt erneute Gespräche – mit dem Ziel, die Folgen der Umsetzung der MDR für die Medtechbranche abzumildern. Ausgang offen.





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