

Der in der Pflege herrschende Fachkräftemangel wird sich weiter zuspitzen – allein in den nächsten zehn bis zwölf Jahren werden 500 000 Pflegefachkräfte in Rente gehen, rechnet der Barmer Pflegereport 2021 vor. Dabei habe man in Deutschland eigentlich gar nicht zu wenige Pflegekräfte, so der Vorsitzende des Hartmannbundes Sachsen, Dr. Thomas Lipp, gegenüber der Ärztezeitung. Das Problem sei nur, dass das vorhandene Personal kaum zum Pflegen komme. Tatsächlich verbringen Pflegekräfte mehr als die Hälfte ihrer Arbeitszeit ( 56 Prozent) mit administrativen Aufgaben, so das Ergebnis der weltweiten Studie „Critical Technology for Critical Care: The State of Mobility in Healthcare 2020/21“. Angesichts dieser Problematik wird seit Jahren gefordert, die Pflegerinnen und Pfleger im Krankenhaus von jenen administrativen Tätigkeiten zu entlasten und ihnen mehr Zeit für ihre Patienten zu geben. Dementsprechend wächst auch das Interesse an den Möglichkeiten von Assistenzrobotern in Kliniken.
Robotik wird indes in vielen deutschen Krankenhäusern bereits seit Jahren genutzt – etwa in Form von Operationsrobotern wie da Vinci oder auch als Reinigungs- und Desinfektionsroboter. Der Einsatz von robotischen Assistenzsystemen für die Pflege trifft allerdings auf immense Vorbehalte. Schließlich ist gerade die Pflege am Patienten in ihrer Kernaufgabe durch die menschliche Zuwendung bestimmt. Diese verantwortungsvolle Tätigkeit mit Hilfe von solchen Assistenzsystemen zu entlasten birgt also immer die Gefahr, die Pflege zu entmenschlichen. Nicht von ungefähr fordern ausgebildete Pflegende in der von der Bremer Arbeitnehmerkammer veröffentlichten Studie „Ich pflege wieder wenn…“ mehr Zeit für menschliche Zuwendung, wenn es um die Frage geht, welche Bedingungen sie zum Wiedereinstieg in die Pflege oder zu einer Erhöhung der Stundenanzahl motivieren würden.
Pflegeassistenzroboter Hollie
Vor diesem Hintergrund geht derzeit ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Verbundprojekt unter der Koordination des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung (DIP) der Frage nach, wie und unter welchen Bedingungen jene robotischen Assistenten die Krankenpflege unterstützen können. Dazu hat das House of living Lab des Forschungszentrums für Informatik (FZI) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) mit „HoLLiE“ einen multifunktionalen Pflegeassistenzroboter entwickelt.
Das Besondere daran ist, dass seine Einsatzfelder im Austausch mit den Pflegekräften der beiden beteiligten Kliniken, dem Städtischen Klinikum Karlsruhe und dem Knappschaftsklinikum Saar, entstanden sind. Das DIP begleitet das von Februar 2020 bis Januar 2023 laufende Projekt pflegewissenschaftlich bei der Identifikation und der Konkretisierung der einzelnen Einsatzszenarien. „Hierzu wurde das Pflegepersonal danach befragt, bei welchen Einsatzfeldern ein solcher Roboter den Pflegenden helfen könnte. Diese wurden dann in einem iterativen Prozess in Rücksprache mit den beteiligten Technikpartnern schrittweise konkretisiert. Aus diesem Prozess haben sich sechs prototypische Einsatzszenarien herauskristallisiert, auf die HoLLiE zugeschnitten ist“, erläutert Matthias Brünett, wissenschaftlicher Mitarbeiter des DIP.
Multifunktional einsetzbar
Im Gegensatz zu anderen Pflegerobotern wie etwa der Kommunikationsroboter „Pepper“ oder dem als Therapiemittel in der Betreuung von Menschen mit Demenz eingesetzte Roboter „Paro“ ist Hollie als erster seiner Art multifunktional einsetzbar. Demensprechend klobig ist das äußere Erscheinungsbild des 1,70 Meter großen Roboters, denn seine Komponenten stammen sämtlich aus Einzelteilen, die als Industrieroboter bereits im Einsatz sind. Die massive Navigationsplattform etwa, mit deren Hilfe Hollie autonom in die Räumlichkeiten der Kliniken navigieren kann, ist darauf ausgelegt, schwere Lasten transportieren zu können. Auch die beiden Arme sind so konzipiert, dass sich damit Gegenstände akkurat greifen, festhalten und transportieren lassen. „Die Idee dahinter ist, dass ein multifunktionaler Roboter die Pflege einfach besser unterstützt, wenn er nicht nur eine Tätigkeit, sondern gleich mehrere ausführen kann“, ergänzt Matthias Brünett.
Drei unterschiedliche Grundfunktionen
Zunächst wurde Hollie, der von den Projektbeteiligten dem weiblichen Geschlecht zugeordnet wird und demensprechend eine Roboterassistentin ist, dazu auf Basis einer Fachliteraturrecherche mit drei Grundfunktionen versehen: Das sind erstens Transport und Logistik, zweitens Assistenz und drittens Dokumentation und Information. Zu jeder dieser grundlegenden Fähigkeiten haben die Projektbeteiligten zusammen mit den Pflegekräften anschließend zwei konkrete Aufgabenfelder ausgewählt, in denen Hollie ihre Assistenzfunktion ausüben kann. Im Einsatzfeld Transport und Logistik etwa ist Hollie in der Lage, den Pflegenden das Nachschieben eines Rollstuhls bei Gehübungen von Patienten abzunehmen. Dazu besitzt sie eine Vorrichtung, mit der sie Rollstühle vor sich herschieben kann. Sie übernimmt damit also eine Hilfstätigkeit, für die bislang eine weitere Pflegekraft eingesetzt werden musste. Auch das Vorbereiten von benötigten Pflegematerialien ist eine wiederkehrende Routineaufgabe in der Pflege. Hollie ist daher in der Lage, häufig benötigte Materialsets etwa zur Blutentnahme selbstständig zusammenzustellen. Dazu entnimmt sie die unterschiedlichen Materialien aus dem Lagerort und stellt sie in der benötigten Stückzahl und Zusammenstellung für die Pflegefachkräfte bereit.
Kooperatives Gehen
Für die Funktion der Assistenz haben die Pflegenden als erstes Aufgabenfeld die Begleitung von gehfähigen Patienten benannt. Daher kann Hollie sie zum Untersuchungsraum führen und ihnen dabei eine Stützhilfe sein. Der Roboter passt sich dabei während der Begleitung individuell an die Bedürfnisse und Einschränkungen der Patienten an, beispielsweise bei der Gehgeschwindigkeit. Während der Begleitung ist Hollie sogar in der Lage, mit ihnen sprachlich zu kommunizieren. Zusätzlich wird ihnen auch die jeweilige Wegrichtung auf den Boden projiziert. „Nachdem diese Funktion als grundsätzlich relevant festgestellt und auch die technische Machbarkeit von unseren Technikpartnern bestätigt wurde, ging es darum sich zu überlegen, wie man das umsetzen kann: Dass also der Patient nicht einfach nur hinterherläuft, sondern dass Mensch und Roboter ihren Weg aufeinander abstimmen“, berichtet Matthias Brünett. Dazu wurde Hollie mit Hilfe von eingebauten Bewegungssensoren und Softwarealgorithmen die Fähigkeit zum sogenannten kooperativen Gehen verliehen. „Gebrechliche Patienten gehen manchmal langsamer oder auch etwas schneller. Das registriert der Roboter und kann seine Geschwindigkeit darauf anpassen. Auch, wenn sie nicht schnurgerade gehen, sondern etwa Kurven laufen oder stehen bleiben – wenn das nicht kooperativ wäre, müssten Pflegende hier ansonsten permanent mitlaufen“, so Brünett.
Das zweite Aufgabenfeld sind Bewegungsübungen, etwa im Rahmen der Thromboseprophylaxe, bei denen die betroffenen Personen angeleitet werden, alle Extremitäten zu bewegen. Auch hier erkennt die Roboterassistentin über ihre Sensoren und Kameras, ob die Bewegungsübungen richtig ausgeführt werden und kann die Durchführung per Sprachanweisungen korrigieren. Nachdem Bewegungstherapeuten den Patienten jene Übungen erklärt haben, entlastet Hollie also, indem sie statt einer Pflegekraft deren Durchführung kontrolliert.
Wunddokumentations- und Logistikhelferin
Bei der Dokumentation und Information hilft Hollie, indem sie die Pflege bei der Wunddokumentation unterstützt. Hier assistiert sie, indem sie mit Ihrer Kamera die Bilddokumentation der Wunde übernimmt. Mit Hilfe ihrer Spracherkennungssoftware kann sie zudem das am Patientenbett Gesprochene direkt in das dafür vorgesehene Dokumentationsformular schreiben. „Die Pflegekraft spricht etwa aus, wie der Zustand der Wunde ist, und der Roboter nimmt das auf und setzt es automatisch in der Dokumentation an die richtige Stelle“, ergänzt Matthias Brünett. Dafür haben ihre Entwickler eine eigene Wunddokumentationsmaske erstellt, denn einen Zugang zum Krankenhausinformationssystem besitzt der Roboter noch nicht. Das zweite Szenario ist hier das Einräumen von Medikamenten in den Stationsapothekenschrank. Auch diese Aufgabe kann Hollie den Pflegenden abnehmen. Sie ist in der Lage, angelieferte Medikamente selbständig aus Medikamentenkisten zu nehmen, diese einzuräumen und auch nach dem jeweiligen Ablaufdatum zu sortieren.
Bereits Anfang dieses Jahres sind die Grundfunktionen der Roboterassistentin getestet worden. Im November und Dezember stehen die zweiten Realtestungen an, in denen dann tatsächlich die Praxistauglichkeit der sechs Szenarien zusammen mit Pflegenden und Patienten ermittelt wird. Wie es mit Hollie nach Ende der Projektlaufzeit weitergeht, steht noch nicht fest. Die ersten Reaktionen sind indes bereits durchaus positiv: „Der Serviceroboter hat das Potential, unseren Pflegekräften bestimmte wiederkehrende Tätigkeiten abzunehmen und sie dadurch punktuell zu entlasten“, postuliert etwa Elvira Schneider, Pflegedirektorin am Städtischen Klinikum Karlsruhe. Zudem hat das DIP Patienten, Pflegekräfte, Besucher und anderes Klinikpersonal zu ihrer generellen Einstellung zum Einsatz von Robotik in der Pflege befragt. „Besucher und Patienten haben das tatsächlich positiver als die Pflegekräfte und das andere Klinikpersonal eingeschätzt“, berichtet Matthias Brünett.
Dass Hollie die Pflege unterstützt oder administrative Tätigkeiten übernimmt, wurde demnach von allen positiv aufgenommen. Kritisch wurden die Einschätzungen dagegen dann, wenn es darum geht, dass der Roboter tatsächlich pflegerische Tätigkeiten durchführen könnte. „Ein Roboter wird einen Pflegenden nicht ersetzen können – zumindest nicht in absehbarer Zukunft. Vielmehr geht es darum auszuloten, wie intelligente robotische Systeme die Pflege unterstützen können. In Zukunft wird der Stationsalltag wahrscheinlich anders aussehen, wenn robotische Systeme wie Hollie zum klinischen Alltag gehören. Was sich aber nicht ändern wird, ist die Arbeit der Pflege am Patienten, gerade wenn es um Körperkontakt, um Zuwendung und um Beistand geht“, bekräftigt Dr. Jan Reisdorf, Sektionsleiter der Geriatrie am Knappschaftsklinikum Saar in Püttlingen.
Den Pflegekräftemangel werden sie indes nicht beseitigen können, sind sich die Experten sicher. „Einfach nur zu sagen, wir setzten da mal einen Roboter ein und damit wird das schon besser – das wird nicht klappen. Wenn hier nicht für bessere Arbeitsbedingungen gesorgt wird, geht das Abwandern von Pflegekräften weiter. Und dann kommen wir tatsächlich irgendwann in die Situation, dass wir eine entmenschlichte Pflege haben“, unterstreicht Matthias Brünett.





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