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KommentarDie Zukunft beginnt jetzt

Es gilt für ein Unternehmen genauso wie für eine Branche oder Volkswirtschaft: Wer zukunfts- und wettbewerbsfähig werden und/oder bleiben will, muss investieren. Ein Blick auf den Zugang zu Kapital für Unternehmen wie auch auf die Investitionen von staatlicher Seite zeigt: Hier stimmt etwas nicht. 

Admir Kulin
m.Doc GmbH
Admir Kulin, Gründer und Geschäftsführer der m.Doc Gmbh.

Von Hamburg über die Südpfalz bis runter nach Bayern zeigen sich Kassenärzte solidarisch: Sie streiken – inoffiziell, weil sie es offiziell nicht dürfen. Viele Praxen blieben Anfang Oktober wegen der Sparpolitik der Bundesregierung sowie der geplanten Abschaffung der Neupatientenregelung geschlossen, mit der der Bundesgesundheitsminister die gesetzlichen Krankenkassen finanziell stützen will. Und auch an einer der größten Universitätskliniken Europas haben rund 2700 Mediziner zum Ausstand aufgerufen. „Es werden immer mehr Überstunden und zusätzliche Dienste angehäuft, ohne dass ein Ende der Belastung in Sicht wäre“, kommentierte Peter Bobbert, Berlin-Brandenburg-Chef des Marburger Bundes, den Streik an der Charité gegenüber der Berliner Zeitung. Die Forderung der Ärzteschaft: Grenzen für den Bereitschaftsdienst auf vier im Monat, vier Wochen im Voraus gesicherte Dienstpläne sowie 6,9 Prozent mehr Lohn. 

Dramatische Appelle kommen auch von der Deutschen Krankenhausgesellschaft. 40 Prozent der Häuser seien mittlerweile von einer Insolvenz bedroht, fürchtet der Verband. Die hohe Inflation ziehe sich durch sämtliche Bereiche des Krankenhausalltags: Handwerker, Reinigung, Essensversorgung und vor allem auch jene medizinischen Produkte, die im Ausland produziert werden. On Top kommen dann noch die gestiegenen Energiekosten, während demgegenüber die Einnahmen unverändert bleiben, weil – wie oben beschrieben – auch das Kassensystem unter chronischem Geldmangel leidet. 

Wo sind die Zukunftsinvestitionen?

Eine weitere kritische Stimme kann man dieser Tage vom IFW Kiel vernehmen. Eine Analyse der Bundeshaushalte der letzten 21 Jahre durch das Institut zeigt: Deutschlands Bundesregierungen verteilen Haushaltsmittel vor allem um. Dominierender Posten sind Sozialausgaben teilweise mehr als 40 Prozent aller Ausgaben. Dagegen investiert der Staat nur in deutlich geringerem Umfang in Infrastruktur, Bildung oder seine Institutionen. Im Jahr 2021 waren weniger als ein Viertel aller Haushaltsmittel für unmittelbar produktive Zwecke in Gegenwart oder Zukunft eingeplant. Einen sprunghaften Anstieg gab es dagegen bei Subventionen in Form von Finanzhilfen. Bundesausgaben mit Produktionseffekten für die Zukunft, im Wesentlichen Mittel für Grundlagenforschung und Bildung, schlugen 2021 hingegen nur mit 30,2 Milliarden Euro (6,4 Prozent) zu Buche.

Nun ist natürlich nicht alles nur negativ. Vor allem der stationäre Sektor kann sich mit dem KHZG als Konjunkturprogramm aktuell nicht über mangelnde finanzielle Unterstützung für Digitalisierungs- und Zukunftsprojekte von offizieller Seite beklagen. Dennoch sollte die vorangegangene Analyse zumindest zum Nachdenken anregen. Denn aktuell zeichnet sich ab, dass wir uns als Gesellschaft, aber vor allem auch als Gesundheitsbranche mit einer Welt anfreunden müssen, in der Energiekosten und Inflation hoch bleiben werden, was uns an einigen Stellen vor Herausforderungen stellen dürfte. Und ein Blick auf die Investitionen der vergangenen Jahre wirft eindeutig die Frage auf, ob wir – als Branche und als Gesellschaft – für diese unmittelbare Zukunft wirklich gerüstet sind. 

Klug agieren

Und eben diese absehbaren Herausforderungen sind es, die alle Verantwortlichen im Gesundheitswesen jetzt zu klugen Handlungen anregen sollten. Natürlich ist leichter gesagt als getan in wirtschaftlich angespannten Zeiten Mittel für Zukunftsinvestitionen zu mobilisieren. Es sind jedoch genau diese Zeiten, die offenlegen, wie dringend derartige Investitionen getätigt werden müssen. Das System und die Menschen, die in ihm arbeiten, kommen an vielen Stellen an Grenzen, wie unter anderem die Streiks der Ärzteschaft zeigen. Die angespannte Situation in der Pflege streifen wir hier noch nicht einmal. Eine solch negative Spannung lässt sich nur durch Entspannung lösen – wenn es denn nicht zum großen Knall kommen soll. Und dafür muss die Arbeit und der Alltag in den Kliniken zwangsläufig effizienter gestaltet werden. Das heißt, wir müssen über neue Versorgungsmodelle sprechen, über ein Aufbrechen der Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Und weil die Ressource Mensch mittlerweile zu einem knappen Gut geworden ist, lautet die Antwort zwangsläufig ein Mehr an Automatisierung und Digitalisierung. Stichwort: Digital First.  

Gerade in der medizinischen Forschung gibt es unzählige Beispiele, die zeigen, welcher Mehrwert aus der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Technik entstehen kann. Exemplarisch seien hier die Erkenntnisse des MIT, der Harvard Medical School und des Beth Israel Deaconess Medical Center aus dem Jahr 2016 genannt, die eindrucksvoll aufgezeigt haben, dass Teams aus Pathologen und einem Deep-Learning-Modell deutlich mehr Fälle von metastatischem Brustkrebs identifizieren konnten (Erkennungsrate 99 Prozent) als Mensch (Erkennungsrate 96 Prozent) oder Maschine (Erkennungsrate 92 Prozent) alleine. Kaum vorstellbar also, wenn man die Vorteile dieser Zusammenarbeit noch intensiver für den Alltag nutzen würde… 

Jetzt ist nicht die Zeit zu sparen

Wenn eines jetzt klar wird, dann, dass JETZT der richtige Zeitpunkt für Handlungen ist. Das heißt an vielen Stellen mit Sicherheit auch, dass es den Status Quo zu hinterfragen gilt. Und ein kleiner Spoiler: Er wird in so vielen Bereichen kaum zu halten – oder besser gesagt – zu bewahren sein. Aber wäre das denn überhaupt erstrebenswert? Klar, der Mensch ist in gewissem Sinne ein Gewohnheitstier, vor allem, wenn er es sich gemütlich gemacht hat und es ihm einigermaßen gut geht. Doch der Wind wird rauer und damit dürfte klar sein, dass der Status Quo schon ziemlich bald ungemütlich werden dürfte. Daher ist jetzt definitiv nicht die Zeit zu sparen, sondern Ressourcen – auch die finanziellen – klug und vorausschauend einzusetzen. Und wir müssen uns beispielsweise auch darüber unterhalten, ob tatsächlich alle derzeit aktiven Krankenhäuser in Zukunft noch in dieser Form wirtschaftlich betrieben werden können. Vor allem aber müssen wir offen sein, für schmerzhafte Entscheidungen, die in einem zweiten Schritt dann vielleicht bessere Arbeitsbedingungen für die Menschen im Gesundheitswesen bedeuten und zu einer besseren Versorgung der Patientinnen und Patienten führen. 

Dieser Appell geht tatsächlich an alle: Behandler, Verwaltung, Investoren, Kassen, Unternehmen aus dem Gesundheitssektor und auch an die Verantwortlichen auf Seiten der Bundesregierung. Umverteilung ist am Ende des Tages ein Festhalten am Status Quo. In der Medizin ist es vielleicht vergleichbar mit der unglaublich schweren, aber manchmal eben notwendigen Entscheidung, einen Angehörigen, der nur noch von Maschinen am Leben gehalten wird, gehen zu lassen, damit er oder sie als Organspender vielleicht an anderer Stelle neue Hoffnung schenken kann. 
 

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