
Wenn in Krankenhäusern im Fall von Pandemien die Behandlungskapazitäten auf Intensivstationen knapp werden, soll künftig maßgeblich die „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“ eines Patienten darüber entscheiden, wer behandelt wird. Andere Kriterien wie das Alter oder eine Behinderung sollen keine Rolle spielen dürfen. Das regelt ein Gesetz zur sogenannten Triage, das der Bundestag beschlossen hat.
Das Thema Triage war in der Pandemie wegen voller Intensivstationen in den Fokus gerückt. Mit der nun beschlossenen Ergänzung des Infektionsschutzgesetzes soll ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom Dezember 2021 umgesetzt werden. Das Gericht hatte entschieden, dass der Staat die Pflicht hat, Menschen vor einer Benachteiligung wegen ihrer Behinderung zu schützen. Dem Gesetzgeber wurde aufgetragen, Vorkehrungen dafür zu treffen. Bisher gibt es dazu keinen Gesetzesrahmen, sondern wissenschaftlich erarbeitete Empfehlungen für Ärzte. Das Gesetz muss noch durch den Bundesrat, ist aber nicht zustimmungspflichtig.
DIVI: „Wir lehnen ‚First-come-first-serve‘-Vergabe ab“
Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) übt harsche Kritik an dem Gesetz. „Alle sind sich einig, dass medizinisch solch schwierige Entscheidungen nur mit Blick auf die Erfolgswahrscheinlichkeit einer intensivmedizinischen Behandlung getroffen werden können“, sagt DIVI-Präsident Prof. Gernot Marx: „Im Zweifelsfall wird der Patient priorisiert behandelt, von dem wir glauben, dass er die beste Chance hat, durch die Intensivmedizin zu überleben.“ Das Gesetz wolle es jedoch anders.
Den DIVI-Experten geht es insbesondere um diese Formulierung: „Bereits zugeteilte überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten sind von der Zuteilungsentscheidung ausgenommen“, heißt es im Gesetzestext. Wer also schon in einem Bett liege, werde mit Sicherheit behandelt. Eine Ex-Post-Priorisierung wird damit verboten.
Ich bin mir sicher, dass aus Sorge vor zivil-, straf- sowie aus berufsrechtlichen Konsequenzen gebotene Therapiezieländerungen nicht mehr vorgenommen werden.
Sei nur noch ein Bett in ganz Deutschland frei, werde unter all den Patienten entschieden, die zu dem Zeitpunkt in der Notaufnahme oder den Normalstationen als intensivpflichtig eingeschätzt werden – die aber eventuell viel größere Überlebenschancen haben als einige der Patienten, die bereits auf den Intensivstationen in Behandlung sind, kritisiert die DIVI. „Diese ‚First-come-first-serve‘-Vergabe von Intensivmedizinressourcen lehnen wir strikt ab, ebenso wie die Möglichkeit eines simplen Losverfahrens“, erklärt Prof. Uwe Janssens, der für die DIVI vor zwei Jahren federführend an der medizinischen Leitlinie zur Triage beteiligt war.
„Das jetzt gesetzlich formulierte Verbot einer Ex-Post-Priorisierung wird unweigerlich zu mehr vermeidbaren Todesfällen führen“, ist Janssens überzeugt. Das Verbot werde sich jetzt auch deutlich auf den Alltag der Intensivmediziner auswirken: „Das Verbot der Ex-Post-Priorisierung wird es – und das nicht nur unter Pandemiebedingungen – Ärzten deutlich erschweren, Therapiezieländerungen im klinischen Alltag umzusetzen.“ Das aber wiederum sei gelebte Praxis in der Intensivmedizin. „Ich bin mir sicher, dass aus Sorge vor zivil-, straf- sowie aus berufsrechtlichen Konsequenzen gebotene Therapiezieländerungen nicht mehr vorgenommen werden.“
Bischof Dr. Georg Bätzing: „Wichtige Weichenstellung“
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Georg Bätzing, dagegen hält es für eine richtige und wichtige Weichenstellung, dass das Gesetz die sogenannte Ex-Post-Triage weiterhin verbietet. „Bei einem solchen Verfahren würden ansonsten auch Patienten, deren lebensnotwendige Behandlung bereits begonnen wurde, wieder in eine Zuteilungsentscheidung einbezogen, sofern ein neu hinzugekommener Patient eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit hat“, erklärt Bätzing. Eine bereits begonnene Behandlung des ersten Patienten würde dann wieder abgesetzt.
Angehörige und Patienten müssten also ständig befürchten, dass die bereits eingeleiteten lebensnotwendigen Behandlungsmaßnahmen nicht von Dauer sind. Dadurch würde das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zerstört. Eine Prüfung, inwieweit die Fortführung der Behandlung bei einem individuellen Patienten in Hinblick auf seine Genesung oder sein Überleben weiter sinnvoll sei, „ist deshalb allein unter dieser individuellen Perspektive aufgrund ärztlicher Expertise durchzuführen und keinesfalls unter einer Konkurrenz-Perspektive im Hinblick auf andere Patienten“, mahnt Bätzing. Gerade in prekären Mangelsituationen dürfe der Blick nicht einzig auf die Behandlung einer möglichst großen Zahl von weniger kranken oder jüngeren Menschen gerichtet sein.
Ärztepräsident Reinhardt: „Ärzte werden verunsichert“
Auch Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, ist mit dem Gesetz unzufrieden. Für Ärzte sei es unabdingbar, dass sie sich keinen rechtlichen Risiken aussetzten, wenn sie in einer extrem schwierigen Situation eine Entscheidung über die Behandlungsreihenfolge träfen, sagte Reinhardt dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Deshalb hätte in dem Gesetz neben dem Kriterium der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patienten auch die ärztliche Indikation und der Patientenwille verankert werden müssen. Das sei aber nicht geschehen.
„Ohne eine solche Klarstellung wird der Hinweis in der Gesetzesbegründung, dass die Letztverantwortung für die Beurteilung medizinischer Sachverhalte bei den Ärzten liegt, diese eher noch weiter verunsichern“, sagte Reinhardt. Vor diesem Hintergrund sei es gut, dass es eine Überprüfung der Triage-Regelungen geben solle, um die Auswirkungen auf die medizinische Praxis im Blick zu haben.
Corinna Rüffer (Grüne): „Immanent diskriminierend“
Die Grünen-Bundestagsabgeordneten Corinna Rüffer kritisierte, das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Triage-Beschluss festgestellt, dass der Staat dazu verpflichtet sei, behinderte Menschen in einem pandemiebedingten Triage-Fall wirksam vor einer Diskriminierung zu schützen. Das löse der Gesetzentwurf nicht ein. „Das im Gesetz gewählte Kriterium der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit wirkt immanent diskriminierend“, so Rüffer, „weil es nicht dazu dient, die schwachen Patientinnen und Patienten zu schützen, sondern im Gegenteil darauf gerichtet ist, die ‚fittesten‘ zu retten.“
Deutsches Institut für Menschenrechte: „Grenze überschritten“
Ähnlich wie Rüffer argumentiert Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Das Gesetz werde den verfassungs- und menschenrechtlichen Anforderungen nicht gerecht, sagt Rudolf. Mit der Regelung, anhand der „aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ zu entscheiden, wer eine lebensrettende Behandlung erhalte und wer nicht, werde eine unverrückbare Grenze überschritten, die das Grundgesetz und die Menschenrechte setzten. Denn mit der Regelung werde menschliches Leben unterschiedlich bewertet.
Die Menschenwürde verbiete es aber gerade, eine Abstufung oder Bewertung menschlichen Lebens staatlich zu legitimieren, betont Rudolf. Vielmehr bekräftige das Grundgesetz: Jedes Leben ist gleich viel wert. Der Grundsatz der Gleichwertigkeit allen menschlichen Lebens sei eine der grundlegendsten Wertentscheidungen des Grundgesetzes.





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