Lutz Fritsche ist ein Vorstand, der von Schönfärberei nicht viel nicht zu halten scheint. In der Pressemitteilung der Software-Firma Atacama heißt es, die Paul Gerhardt Diakonie führe das Programm Apenio für die digitale Patientendokumentation und damit auch die digitale Kurve ein. „Stimmt“, sagt er – aber das Ringen um die Lösung halte an, die endgültige Umsetzung stehe noch aus. Fritsche wirkt entschlossen und doch ein wenig strapaziert: „Das Go-Life ist noch nicht genau terminiert. Die Ärzte wollen, dass die Information zur Medikation automatisch in den Arztbrief einfließt. Da müssen wir ihnen entgegenkommen, denn bei ihnen ist der neue digitale Prozess nicht besonders populär: Sie müssen ihre Anordnungen jetzt selbst in die Kurve eintragen und können das nicht mehr durch Zuruf den Pflegekräften übergeben.“
Bisher gibt es eine vollständig papierlose Patientenakte nur in rund jedem neunten bis zehnten Krankenhaus, schätzen Experten wie Bernhard Calmer von Cerner und Atacama-Chef Jürgen Deitmers. Doch offenbar sind augenblicklich immer mehr Klinikmanager so wie Fritsche bereit, sich für die digitale Kurve stark zu machen, beobachtet auch Martina Götz von Agfa Healthcare. „Die digitale Kurve ist seit vielen Jahren Bestandteil unseres KIS. Nur haben die Krankenhäuser sie lange nicht genutzt. Seit Beginn dieses Jahres aber steigt die Nachfrage deutlich“, sagt die Marketingchefin.
Pflegefachsprache empfehlenswert
Dass bisher so viele Krankenhäuser gezögert haben, ist durchaus nachvollziehbar. Die Einführung der digitalen Kurve bedeutet nicht nur dicke Bretter bohren bei den Ärzten. Gerhard Witte, der als Pflegedienstleiter an der Uniklinik Schleswig-Holstein für die Einführung von EDV-Systemen und Software in der Pflege verantwortlich ist, spricht von einem „Riesenaufwand“. „Es fängt damit an, dass man eigentlich überall WLAN braucht; ist es nicht flächendeckend vorhanden, muss man über Alternativen wie ein LTE-Netz nachdenken. Wir beziehen es in jedem Fall ein, wenn wir nach der momentanen Testphase nächstes Jahr die digitale Kurve flächendeckend an beiden Standorten Kiel und Lübeck einführen. Hinzu kommt: Wir müssen unser Kurven-Tool von Agfa den Anforderungen der einzelnen Abteilungen anpassen – denn eine Gynäkologie braucht eine andere Ausgestaltung als die Innere Medizin und diese wieder eine andere als die Chirurgie.“ Bei aller fachlichen Differenzierung ist es zugleich wichtig, Prozesse und Dokumentationsweisen vorab zu standardisieren. So empfiehlt etwa Cerner, sich auf fest definierte Textbausteine für die Verlaufsdokumentation zu einigen – wenn nicht sogar auf eine Pflegefachsprache, insbesondere LEP (Leitungserfassung in der Pflege). Eine solche standardisierte Dokumentation erleichtert Dinge wie die Abrechnung der Pflegekomplexpauschalen (PKMS), ermöglicht interne und externe Vergleiche sowie unterschiedlichste Datenanalysen.
Neben LEP gibt es aber noch andere Pflegefachsprachen wie ENP (European Nursing Care Pathways), die das Unternehmen Recom für seine digitale Patientenakte (GriPS G4) entwickelt hat, oder Apenio, die Atacama zusammen mit der Uni Bremen erarbeitet und nach ihrem Pflegedokumentationsprogramm benannt hat.
Dokumentationswagen oder iPad?
Was alles bei der Umsetzung zu bedenken ist, wird deutlich, wenn man sich mit Sven Fritzsche unterhält, der im Unfallkrankenhaus Berlin (ukb) IT-Koordinator des Pflegedienstes ist. „Wir haben als erstes Verlaufsdokumentationen der Ärzte, Pflegekräfte und Physiotherapeuten zusammengeführt und digitalisiert. Durch die Dokumentation in einem System haben viele die Vorteile erkannt: Es gab kein Hin- und Herblättern mehr, alle Berufsgruppen haben gemerkt, dass ihre Hinweise und Anordnungen tatsächlich zügig zur Kenntnis genommen werden.“ Dass die gemeinsame Verlaufskurve als Segen empfunden wird, ist nicht selbstverständlich. Es gibt Klinikmanager, die müssen schon an dieser Stelle ernsthaft argumentieren, weil manche Ärzte über Irritation klagen, wenn sie neben ihrer eigenen Dokumentation auch die anderer Berufsgruppen sehen.
Ein Jahr später folgte dann im ukb die Kurve als Teil des KIS (Medico) von Cerner sowie die Integration der Medikationsanordnung der Firma ID in diese Kurve auf allen peripheren Stationen. Für Intensivstationen war dies nicht nötig, weil sie schon lange mit dem Dokumentations-Tool ICM von Dräger arbeiteten. Die meisten KIS-Systeme werden heute mit digitaler Kurve angeboten, manche wie Orbis (Agfa Healthcare) können die Vitalzeichen aus externen Geräten direkt entgegennehmen und grafisch darstellen. Daneben gibt es Unternehmen wie Atacama und Recom, die elektronische Patientendokumentationen anbieten, die ins KIS integriert oder eingebunden werden können.
„Die Einführung auf allen 15 Stationen haben wir dann nach einer Pilotphase in sechs Monaten durchgezogen“, erzählt Fritzsche. Eine vierköpfige Projektgruppe hat die Einführung begleitet: der Leiter der Apotheke, die IT-Koordinatoren des ärztlichen und pflegerischen Dienstes und ein Vertreter der IT-Abteilung, in dessen Händen die Projektleitung lag. „Die Neutralität der Projektleitung ist wichtig, um zwischen Pflege und Medizin zu moderieren.“ Die Gruppe hat immer zwei Stationen parallel zwei Wochen lang begleitet. „Auf eine zeitintensive theoretische Einweisung haben wir bewusst verzichtet. Nach acht Stunden Dienst hat keiner mehr Lust, sich damit zu beschäftigen. Außerdem wirkt die Instruktion vor Ort am intensivsten.“ Es gab aber auf jeder Station eine Kick-off-Veranstaltung, um die Bedeutung des Projekts zu unterstreichen.
Auch bei der Hardware heißt es gründlich überlegen. Die meisten Häuser entscheiden sich wie das ukb für einen mobilen Dokumentationswagen. „Dabei sollte der Bildschirm schon 24 Zoll haben“, meint Witte vom UKSH. Häuser wie das Gemeinschaftskrankenhaus Bonn, das Diakonieklinikum Rothenburg und das Knappschaftskrankenhaus Bottrop nutzen als Kunden des KIS i-Med-One (Telekom Healthcare) iPads. „Doch ein Tablet als Gesamtlösung schien uns eine Vergewaltigung der Kurve“, sagt Sven Fritzsche.
Im ukb gibt es jetzt drei mobile Dokumentationswagen pro Station plus fünf bis sieben stationäre Geräte. Mit dieser Entscheidung ist die Angelegenheit aber nicht erledigt: Das ukb hat mit der Firma März einen Wagen ganz nach seinen Ansprüchen entwickelt – mit leicht zu dirigierenden Rollen, absenkbarem Bildschirm, um einen freien Blick zum Patienten zu gewähren, leicht zu reinigender Tastatur et cetera. Das alles zeigt: Die digitale Kurve bedeutet Kärnerarbeit. Wenn Vorstände wie Fritsche jetzt trotzdem unnachgiebig bleiben, kann dies nur heißen, dass sie wie Witte denken, der sagt: „Ich kann mir für das Krankenhaus der Zukunft nichts anderes vorstellen.“

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