Expertenbeitrag von Bernhard Wolf
Winzige Strukturen aus der Halbleitertechnologie sind heutzutage ähnlich klein wie die Mikrostrukturen lebender Zellen. Folglich können Implantate von bislang nicht gekannter Präzision für diagnostische und therapeutische Zwecke erzeugt werden. Das Verschmelzen von Mikrosensor-Technik, Mikroelektronik und Kommunikationstechniken führt dazu, dass organische Wirkstoffe und Therapeutika zielgerichtet an den Krankheitsherd transportiert werden können oder an Stellen im Körper, die selbst Ursache für chronische Erkrankungen sind.
Sensoren, die Zellen überwachen können
Zentrales Element solcher mikroelektronischer Systeme sind Sensoren, die menschliche Zellen überwachen können. Bereits vor mehr als 15 Jahren haben Forscher am Heinz Nixdorf-Lehrstuhl der TU München damit begonnen, elektronische Sensoren zu entwickeln, die den aktuellen metabolischen Zustand von Zellen ermitteln können. Dazu werden keine Hilfsreagenzien benötigt: Die Zellen werden direkt auf dem Sensor kultiviert, sie verwachsen quasi mit den elektronischen Bauteilen. So entsteht ein sogenannter biohybrider Sensor, der in der Lage ist, etwa die Änderung der Sauerstoffkonzentration oder den pH-Wert im Gewebe zu messen. Diese Werte bilden die Reaktion der Zellen zum Beispiel auf Schadstoffe oder Medikamente ab. Die Wissenschaftler haben die Sensoren auf die Basis von Mikrotiterplatten platziert – jeweils ein multiparametrisches Sensor-Array liegt in einer der 24 Reaktionskammern. Diese „Intelligenten Multiwellplatten“ sind Grundlage für ein neuartiges System, das die Krebstherapie entscheidend verbessern dürfte.
Finanzierungspartner für klinische Studie gesucht
Hierbei werden dem Patienten per Biopsie Tumorzellen entnommen, die anschließend auf den Sensoren dieser Multiwellplatten kultiviert werden. Die vollautomatische Analyseplattform „Intelligent Microplate Reader“ (IMR) erstellt daraufhin mit ihrem Pipettier-Roboter in kurzer Zeit sehr große Messreihen. Der IMR kann letztendlich ermitteln, mit welcher Konzentration eines Chemotherapeutikums oder mit welchem Wirkstoffmix sich die Krebszellen eines Patienten am effektivsten bekämpfen lassen. Der Patient kann also von vornherein mit der für ihn idealen Wirkstoff-Zusammensetzung behandelt werden – das ist ausschlaggebend für den Effekt einer Chemotherapie. Denn der erste Behandlungszyklus ist entscheidend: Wird dieser mit einem nicht so idealen Wirkstoff durchgeführt, wirken auch andere Chemotherapeutika in weiteren Behandlungszyklen nicht mehr gut.
Eine Analyse des IMR führt also dazu, dass die Erfolgschancen der Chemotherapie von Anfang an sehr viel höher liegen. Die Behandlung wird im Idealfall präziser, der Patient leidet mit dieser personalisierten Therapie deutlich kürzer unter den Nebenwirkungen. Außerdem sinken die Kosten für die Behandlung. Der IMR befindet sich derzeit in einer ersten klinischen Erprobung; für eine umfangreiche klinische Studie, die letztendlich zur Zulassung als Medizinprodukt führen soll, werden zusätzliche Partner zur Finanzierung gesucht.
Die fortschreitende Miniaturisierung ermöglicht es inzwischen aber auch, dass multiparametrische Sensoren in Implantate eingebaut werden können, die ungefähr halb so groß wie ein Zuckerwürfel sind. In diesen „Intelligenten Implantaten“, die ebenfalls die Münchner Forscher entwickelt haben, befinden sich neben den Sensoren auch noch ein Akku, miniaturisierte Elektronik, eine Funkeinheit und ein Wirkstoff-Tank. Ein solches aktives Implantat lässt sich im Körper in die Umgebung eines Tumors einsetzen, der nur schwer oder gar nicht operiert werden kann. Mit den Sensoren an seiner Außenseite kann es die Sauerstoffsättigung im Gewebe messen, was Rückschlüsse auf das Wachstum des Tumors zulässt. Ermittelt das Implantat Tumorwachstum, so sendet es die Daten an eine Empfängereinheit außerhalb des Körpers. Der Arzt kann daraufhin eine Chemo- oder Strahlentherapie einleiten.
Intelligente Implantate: Zielgenau direkt in den Tumor
Es gibt auch erste Ansätze für eine vollautomatische Reaktion: Das Intelligente Implantat könnte aus seinem Wirkstoff-Tank ein Chemotherapeutikum abgeben: zielgenau in die Umgebung des Tumors oder direkt in diesen hinein. Auf diese Weise entstünde also ein Regelkreis aus automatischer Messung und Diagnose sowie gesteuerter Therapie – Experten sprechen von einem „Closed-Loop-System“. Der Vorteil für den Patienten: Die Nebenwirkungen werden minimiert, weil das Medikament gezielt nur dort eingesetzt wird, wo es tatsächlich wirken soll. Auf diese Weise ist im Tumor eine hohe Wirkstoffkonzentration möglich, ohne andere Organe wie Leber und Niere zu stark zu belasten. Bislang gibt es die Intelligenten Implantate nur als Prototypen, sie werden in den nächsten Jahren aber am Steinbeis-Transferzentrum Medizinische Elektronik und Lab on Chip-Systeme weiter entwickelt.
Eine Pille, die Geschwüre überwachen kann
Die „Intelligente Nanopille“ – das ist quasi ein Implantat zum Schlucken – verfolgt ähnliche Ziele. Sie besteht aus einer Kunststofffolie, auf die Sensoren per Ink-Jet-Druck aufgedruckt werden, sogenannte Nanopartikelsensoren. Die sensitive Folie kann zu kleinen Kapseln aufgerollt werden, in denen sich mikroelektronische Chips, Akku und Funkeinheit befinden – alles miniaturisiert. Die Intelligente Nanopille könnte vom Patienten etwa geschluckt werden, wenn der Arzt ein Magengeschwür vermutet. Die Sensoren an der Außenseite der Kapsel könnten das blutende Geschwür dann erkennen, daran andocken und es dauerhaft überwachen – sollten sie Wachstumsaktivität feststellen, könnte die Funkeinheit die Daten nach außen senden. Dann könnte wiederum der Arzt Maßnahmen einleiten. Denkbar wäre aber auch hier wieder ein winziger Wirkstoff-Tank, von dem Medikamente aus der Pille direkt in das Geschwür abgegeben werden könnten – punktgenau, ohne den Patienten schwer zu belasten.
Können die Systeme bald Zell-Verhalten beeinflussen?
Die Beispiele zeigen, dass miniaturisierte mikroelektronische Systeme schon heute den Weg zu völlig neuartigen Diagnose- und Therapieformen ebnen können. Einige solcher Systeme sind bereits einsatzbereit, andere sind entwickelt und könnten schon bald verfügbar sein. Eine weitere Miniaturisierung der Medizinelektronik bis auf zellulärer oder sogar molekularer Ebene wird es irgendwann ermöglichen, fehlerhafte inter- und intrazelluläre Signalwege, die Ursachen für viele Krankheiten sind, zu erkennen, dann auf elektronischem Wege zu korrigieren und damit diese Krankheiten zu heilen. Die Vorstellung von Lahmen, die wieder gehen, Tauben, die wieder hören, und Blinden, die wieder sehen können, ist schon heute mit Cochlea-Implantat, Retina-Implantat und prothetischen Implantaten keine reine Vision mehr. In ähnlicher Weise werden therapeutische Implantate oder elektronische Pillen die Medizin verändern.
Autor
Bernhard Wolf verantwortet die Forschung im Steinbeis-Transferzentrum Medizinische Elektronik in München. Bis April 2016 war er Professor am Heinz Nixdorf-Lehrstuhl in München.

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