
Wie komplex die Arzneimitteltherapie sein kann, zeigen allein die Daten der Barmer. 2020 hätten Versicherte der Kasse knapp 1.900 verschiedene Wirkstoffe verordnet bekommen und wurden mit fast 460.000 verschiedenen Kombinationen aus zwei Arzneimitteln behandelt. „Kein Arzt kann ohne elektronische Unterstützung die Sicherheit all dieser Kombinationen beurteilen“, so Prof. Dr. Daniel Grandt, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin I am Klinikum Saarbrücken. Prof. Dr. Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer, sagt, dass ein automatischer digitaler Vorgang notwendig sei, der all die Informationen speichert damit sie Arztpraxen, Krankenkassen und Apotheken sektorenübergreifend zur Verfügung stehe – andernfalls erfordere eine manuelle Dokumentation 3,7 Millionen Stunden zusätzlicher Arbeit jedes Jahr, was mehr als 2.200 Vollzeitstellen entspricht. Damit kann die Digitalisierung nicht nur für mehr Arzneimitteltherapiesicherheit sorgen, sondern an anderer Stelle auch wertvolle Arbeitszeit einsparen.
Für die nutzenstiftende Digitalisierung legt die Barmer auch ein Konzept vor. Dieses beinhaltet drei vom Innovationsfonds geförderte Projekte, die die Barmer als Konsortialführerin initiiert hat, zu digital unterstützten neuen Versorgungsformen: AdAM, TOP und eRIKA. Alle Projekte berücksichtigen unterschiedliche Aspekte der Arzneimitteltherapie. Das Konzept aus allem „bietet eine effiziente Lösung und sollte zur neuen Routineversorgung werden“, so Straub. Dafür sind auch die Abrechnungsdaten der Kassen notwendig, damit diese genutzt werden können, müsste deren gesetzlich festgelegte Zweckbestimmung erweitert werden. „Ein für den ambulanten und den stationären Sektor geeigneter Standard für die maschinenverarbeitbare Abbildung von Arzneimitteltherapien inklusive deren Dosierung muss festgelegt und verbindlich gemacht werden“, sagt der Barmer-Chef. Die sichere Verfügbarkeit standardisierter Schnittstellen von Praxis- und Krankenhaussoftware zum Austausch von Informationen zur Arzneimitteltherapie und elektronisch unterstützter Risikoprüfung müsse zudem gewährleistet sein.
Weniger Todesfälle mit Routinedaten
Die „Anwendung für ein digital unterstütztes Arzneimitteltherapie-Management“ – kurz AdAM – könnte bei flächendeckender Anwendung durch die niedergelassenen Ärzte bis zu 70.000 Todesfälle im Jahr verhindern. Das Projekt setzt dabei auf die Routinedaten der Kassen. Von Juli 2017 bis Juni 2021 wurde das Projekt von der Barmer gemeinsam mit der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe und rund 940 Hausärzten mit mehr als 11.000 Patienten mit Polypharmazie als prospektiv randomisierte Studie durchgeführt. Der behandelnde Hausarzt erhielt dabei mit Einverständnis des Patienten sämtliche Informationen zur medizinischen Vorgeschichte, etwa alle Arzneimittel und Diagnosen mit Hinweisen auf vermeidbare Risiken der Arzneimitteltherapie wie Wechselwirkungen von Arzneimitteln. Die unabhängige Evaluation zeige, dass AdAM die Sterblichkeit der in das Projekt eingeschlossenen Patienten im Vergleich zur Routineversorgung relativ um zehn bis 20 Prozent senkt. Hochgerechnet auf Deutschland könnte so jedes Jahr 65.000 bis 70.000 Menschen das Leben gerechnet werden.
Sektorenübergreifende Nutzung
Den Ansatz von AdAM übernimmt das Projekt TOP in die sektorenübergreifende Versorgung und das Krankenhaus. „Eine im Rahmen des Projektes durch das Deutsche Krankenhausinstitut unter Krankenhäusern in Deutschland durchgeführte Umfrage zeigt, dass bei vier von fünf Notfallpatienten behandlungsrelevante Informationen fehlen“, unterstreicht Grandt. Ein Notfall bedeute dass der Patient sich nicht auf die stationäre Behandlung vorbereiten konnte und dass therapeutische Entscheidungen dringlich und notwendige Informationen zum Patienten unverzichtbar seien. Genau wie bei AdAM geht es bei TOP auch um Abrechnungsdaten, die wertvolle Zeit sparen. Im Durchschnitt nämlich 22 Minuten für die Recherche pro Patient – hochgerechnet sind das 4,5 Millionen Arbeitsstunden pro Jahr bei einer flächendeckenden Nutzung. „Krankenkassendaten sind so offensichtlich nutzenstiftend und zudem zeitsparend für das Krankenhaus“, bringt es Straub auf den Punkt.
Digitaler Medikationsplan
Das Projekt eRIKA startete Anfang Oktober und ergänzt AdAM und TOP. Es nutze das elektronische Rezept und die bei der Abgabe von Arzneimitteln in der Apotheke entstehenden Daten für eine zentrale elektronische Dokumentation der Arzneimitteltherapie. Das ermögliche einen kontinuierlichen, fehlertoleranten idealtypischen Prozess der Arzneimitteltherapie, der durchgängig die Sicherheit fördere. „Jeder Patient, dem ein Arzneimittel verordnet wird, hat immer einen aktuellen und vollständigen Medikationsplan, und das ohne Zeitaufwand für Ärzte, Apotheke oder Patienten“, sagt Grandt.





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