Alte Hasen im Gesundheitswesen reden schon mindestens genauso lange über intersektorale Versorgung wie über die ePA – mit dem gleichen Ergebnis: Es funktioniert (noch) nicht. Dabei gibt es viele einzelne regionale Projekte, die bereits im Kleinen zeigen, was möglich ist. Von einer Skalierbarkeit dieser Erfolge sind wir jedoch weit entfernt. Was braucht das deutsche Gesundheitswesen, damit wir nicht nur in zeitlich und räumlich begrenzten Projekten, sondern flächendeckend eine bessere intersektorale Zusammenarbeit im Gesundheitswesen erreichen? Was der Mensch nicht kann, kann häufig die Technologie.

Skalierbarkeit für intersektorale Versorgung?
Beim Thema Skalierbarkeit ist es naheliegend, sich mit Cloud Technologien zu beschäftigen. Nicht umsonst werden große Cloud-Anbieter wie AWS, Google Cloud und Co. auch Hyperscaler genannt. Technologisch betrachtet bieten sie maximale horizontale Skalierbarkeit und Flexibilität. Zwei Eigenschaften, von denen wir in der Gesundheitsversorgung derzeit nur träumen können. Die Frage war daher: Können Cloud-Technologien ein Enabler für intersektorale Versorgung sein?
Im Rahmen einer Studie, die wir in Zusammenarbeit mit Eviden und VMware durchgeführt haben, wollten wir herausfinden, wie Cloud-Technologien die intersektorale Zusammenarbeit verbessern können. Hierzu haben wir mit zehn Entscheiderinnen und Entscheidern aus den Bereichen ambulante Versorgung, Krankenhaus und Krankenkassen gesprochen und eine Online-Umfrage mit über 100 Akteurinnen und Akteuren aus dem Gesundheitswesen durchgeführt. Bei der Begriffsdefinition haben wir uns an der Perspektive der Deutschen Gesellschaft für integrierte Versorgung (DGIV) orientiert: Intersektorale Versorgung ist als sektorübergreifende Versorgung im Gesundheitswesen zu verstehen. Ziel ist, eine stärkere Vernetzung der Branchen und Regionen sowie der verschiedenen Beteiligten (Haus- und Fachärzte, Pflege, Krankenhäuser, Apotheken, Krankenversicherungen und das soziale Umfeld), um die Qualität der Patientenversorgung zu verbessern und gleichzeitig Kosten im Gesundheitswesen zu senken.
Wo funktioniert intersektorale Versorgung und wo noch nicht?
Natürlich wurde bei der Frage, wo intersektorale Versorgung heute bereits eine Rolle spielt, zunächst der Frust deutlich. Etwa, wenn Patientinnen und Patienten dieselben Untersuchungen mehrfach machen müssen, weil medizinische Versorgungszentren (MVZ) und Kliniken ihre Daten nicht austauschen dürfen oder können. In der Umfrage gaben 83 Prozent der Befragten mangelnden Informationsaustausch und Kommunikation als größtes Problem für intersektorale Versorgung an. An zweiter und dritter Stelle folgten ungeklärte Verantwortlichkeiten für technische Aspekte und fehlende finanzielle Anreize. Die gute Nachricht: Unzureichende technische Kompetenz wurde nur von 36 Prozent als Problem genannt.
Bei der Frage, wo in ihrem Alltag die Befragten intersektorale Versorgung heute bereits positiv erleben, blieben die Reaktionen verhalten. Marek Rydzewski, CDO der Barmer, nennt das Thema Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS), bei dem sich die Barmer im Rahmen des Innovationsfonds-Projektes eRIKA einbringt, in dem sie den Ärzt*innen Routinedaten zur Verfügung stellt. Dr. Peter Gocke, CDO der Charité, beschreibt die Vernetzungsplattform, die von der Charité und Vivantes entwickelt wurde, um Daten auszutauschen, und an die mittlerweile bereits weitere Krankenhäuser angeschlossen sind.
Laut Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), funktioniert intersektorale Versorgung nur dort, wo sich Ärzt*innen und Organisationen selbst auf den Weg machen, um geeignete Strukturen zu entwickeln. Ist dies gelungen, habe die Entwicklung von Schnittstellen und das Vernetzen von Daten den Effekt, dass gutes ärztliches Handeln gefördert wird.
Aufbruchstimmung statt Skepsis?
Viele Probleme intersektoraler Versorgung sind technisch lösbar und über 90 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass die intersektorale Zusammenarbeit durch Cloud-Technologien gestärkt werden kann. Ein überraschend positives Ergebnis. Noch vor wenigen Jahren wurden sie vorwiegend mit Skepsis betrachtet und in Berlin und Bayern standen die Landesdatenschutzgesetze der Nutzung von Cloud-Diensten zur Verarbeitung von Patientendaten im Weg.
Bei der Nutzung von Cloud-Technologien erklärt Dr. Gertrud Demmler, Vorständin der Siemens-Betriebskrankenkasse (SBK), dass auf Kassenseite die anfängliche Skepsis gegenüber Cloud-Diensten eher einer Aufbruchstimmung gewichen sei. Treiber dafür sei schlichtweg die Marktentwicklung gewesen, z.B. durch die Nutzung von privaten Cloud-Diensten, die Anpassung von Hyperscalern an Regularien und die schwindende Verfügbarkeit von Software on-premise-Angeboten. Wir leben also in einer neuen Realität und viele der Befragten nutzen in ihren Organisationen täglich Cloud-Dienste. Über 60 Prozent gaben an, Kollaborationstools wie z.B. Office 365 zu verwenden, jeweils über 35 Prozent setzen telemedizinische Lösungen, Online-Terminbuchungstools und Gesundheits-Apps sein.
Top 3 Gründe für den Einsatz von Cloud-Technologien
Die Gründe für den stärkeren Einsatz von Cloud-Technologien sind dabei vielseitig. Besonders häufig wurden die folgenden drei Aspekte genannt:
- Ortsunabhängiges Arbeiten hält Einzug im Gesundheitswesen
Der ortsunabhängige Zugriff auf relevante Daten in der Verwaltung oder in der Behandlung von Patient*innen wird im medizinischen Alltag zunehmend wichtiger und macht den Beruf für Pflegekräfte und medizinische Personal attraktiver. Nils Dehne, Geschäftsführer der Allianz Kommunaler Großkrankenhäuser e.V. (AKG) betont, dass im Gesundheitswesen wie in vielen anderen Bereichen auch eine Verlagerung zu einer ortsunabhängigen Leistungs- und Arbeitswelt stattfinde. Um dies zu ermöglichen, käme man um die Nutzung von gewissen Cloud-Diensten nicht herum. Dem pflichtet Stefanie Kemp, Chief Transformation Officer der Sana Kliniken AG bei, denn sie beobachte, dass die Bereitschaft für eine Transformation bei Ärzt*innen und im Pflegebereich sehr hoch sei, da alle effizienter und digitaler arbeiten möchten. Allein im Bereich mobiler Pflege wäre es in Zukunft über Sensortechnik und Vernetzung möglich, Heimarbeitsplätze anzubieten. Das hätte einen großen Effekt auf die Attraktivität des eigenen Arbeitsplatzes. In der Umfrage stimmten 95 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass Cloud-Lösungen die Zusammenarbeit erleichtere. - IT-Sicherheit kann von einzelnen Leistungserbringern zukünftig nicht gewährleistet werden
Akteure im Gesundheitswesen stehen sich mit immer professionelleren Angriffen auf ihre kritischen Infrastrukturen konfrontiert und stehen vor der Herausforderung, diese auf einem hohen Niveau zu schützen. Nicht jeder kann und will dies zukünftig selber leisten. Dr. Carsten Giehoff, IT-Leiter der Schwester Euthymia Stiftung, erklärt, die Vorteile in Bezug auf Sicherheit bei Cloud-Lösungen lägen auch darin, dass die Verantwortung an Spezialist*innen weitergegeben werden kann. In einem großen Rechenzentrum könnten z.B. Redundanzen ermöglicht werden, die für die einzelne IT-Abteilung selbst finanziell nicht umsetzbar wären. Dem pflichtet auch Sebastian Polag, Vorstand der Agaplesion gAG bei. Er konstatiert, ein Hauptgrund für die Skepsis gegenüber Cloud sei das Bedürfnis, die Daten bei sich selbst liegen haben zu wollen, wohlwissentlich, dass der Serverschrank im Keller eines Krankenhauses wahrscheinlich viel mehr Risiken berge, als eine gut abgesicherte Cloud-Lösung. In der Umfrage stützten 91 Prozent der Befragten diese Einschätzung. - Attraktivität als Arbeitgeber durch modernde Softwareumgebung
Einer der am häufigsten genannten Gründe zur Nutzung von Cloud-Lösungen war die Attraktivität als Arbeitgeber. Robert Bruns, Bereichsleitung IT der Barmer, formuliert klar, dass bei Entwickler*innen und gerade bei der jüngeren Generation eine moderne Cloud-Umgebung der Standard sei. Gleichzeitig wurde auch erwähnt, dass Cloud-Technologien das eigene Team von manchen Verantwortlichkeiten entlasten könne, sodass mehr Ressourcen für versorgungsnahe IT-Projekte frei werden.
Keine Cloud-Strategie trotz hoher Relevanz
In den Studienergebnissen wurden die Vorteile von Cloud-Technologien klar benannt. So schätzen über 90 Prozent die Relevanz im Gesundheitswesen als sehr hoch oder hoch ein. Doch gerade einmal 32 Prozent der Befragten gaben an, auch eine umfassende Cloud-Strategie zu haben. Weitere 32 Protzent haben sich bisher nur erste Gedanken gemacht.

In den Interviews wurde sehr schnell deutlich, dass die Expert*innen, die bereits fortgeschrittene strategische Ansätze haben, auf eine Multi-Cloud Strategie setzen. Das bedeutet, es werden verschiedene Ansätze wie Private-, Sovereign-, Hybrid- und Public-Clouds individuell kombiniert. Darauf setzt beispielsweise Stefanie Kemp bei den Sana Kliniken. Sie geht davon aus, dass es zukünftig die Rolle eines „Cloud Brokers“ geben wird. Dieser managt die verschiedenen Anbieter und Systeme, denn es würde nie die eine Cloud für alle Lösungen geben.
Auch Dr. Christian Ullrich, Bereichsleiter IT der SBK, setzt auf eine Multi-Vendor-Strategie, bei der die Hersteller mit der jeweils höchsten Kompetenz zu einem Use-Case beauftragt werden. Das scheint auf den ersten Blick komplex. Jens Kögler, Healthcare Industry Director EMEA von VMware erklärt, dass Multi-Cloud-Ansätze den Akteuren die größte Flexibilität bieten. Sowohl die Vorteile bezüglich Skalierbarkeit können genutzt werden, aber es kann auch anwendungsspezifisch entschieden werden, welcher Ansatz hinsichtlich Regulatorik, Kosten und Leistung die beste Option darstellt. Darüber hinaus können insbesondere für Krankenhäuser relevante Desaster-Recovery-Fälle abgesichert werden. Mit den heute verfügbaren Technologien können so viele Szenarien für eine moderne, intersektorale Gesundheitsversorgung bei einem sehr hohen Sicherheitsniveau abgebildet werden.

Weichensteller, nicht Problemlöser
Der Mehrwert von Cloud-Technologien für intersektorale Versorgung wurde in den Interviews und der Online-Umfrage klar bestätigt. Es wurde abervielfach betont, dass Cloud-Technologien alleine das Problem nicht lösen werden. Besonders wichtig seien zwei Faktoren: Es braucht zukünftig zum einen klare Standards für den Austausch von Daten und Interoperabilität sowie zum anderen die Veränderungsbereitschaft der Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten. Nur so kann eine intersektorale Versorgung ermöglicht werden, die Patient*innen und Leistungser*innen gleichermaßen Freude bereitet und Medizin besser macht.
Das ausführliche Whitepaper gibt es zum Download.





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