
Das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG), die Digitalisierung der Krankenhäuser, Interoperabilität – das sind Schlagworte, die aktuell Aufmerksamkeit erregen. Doch wie sieht es eigentlich mit der konkreten Umsetzung aus? Wo fängt man als Klinik am besten an, um in die digitale Zukunft zu starten? Vor einigen Jahren wäre diese Frage noch einfach zu beantworten gewesen: Natürlich mit dem Krankenhaus-Informationssystem (KIS). Doch gilt diese Annahme immer noch? Und wenn dem nicht so ist, warum sollte sich ein Krankenhaus einen fundamentalen KIS-Wechsel heute noch antun?
Ausgangslage
Das Rheinland Klinikum, ein Krankenhauskonzern in kommunaler Trägerschaft mit vier Krankenhäusern und etwas mehr als 1 000 Betten, entstand aus einer Fusion der Häuser im Jahr 2019. Daraus erwuchsen viele Harmonisierungsthemen – angefangen von der Medizinstrategie bishin zur IT, sowohl für die Anwendungslandschaft als auch für die Infrastruktur. Hätte diese Fusion im Jahr 2030 stattgefunden, wäre die Harmonisierung der IT sicher über Clinical Data Repository, Interoperabilitätsplattform, Infrastructure as a Service, SOA etc. in kleineren Schritten und leichter zu managen gewesen. Doch im Jahr 2019 bzw. 2021 nach Klärung der notwendigen Finanzierung und einiger organisatorischer Rahmenbedingungen war der Schritt zur KIS-Harmonisierung bzw. zum KIS-Wechsel quasi „alternativlos“.
Im Rheinland Klinikum war aus der Fusionsumsetzung die Projektidee entstanden, mit der Harmonisierung der KIS-Systeme der Häuser zugleich eine erwünschte Prozessharmonisierung für Ärzte, Pflege und die Abrechnung zu realisieren. Das KHZG brachte einen zusätzlichen Motivationsschub − „mit der Erfüllung der MUSS-Kriterien in den Fördertatbeständen 3, 5 und 6 gehen wir einen großen Schritt in Richtung Digitalisierung“. Die Möglichkeiten einer digitalen Patientenakte, digitaler Visite, Spracherkennung, Order Entry für Subsysteme und der digitalen Medikation ergänzten hervorragend die bereits definierten zentralen Projektziele. Also eine echte Chance zum Neustart für das neue Klinikum und die Digitalisierung – aber als Großprojekt auch ein richtig dickes Brett!
Projektablauf – Start in den Wasserfall
Für die Implementierung oder Harmonisierung eines neuen KIS kommt man im Projekt-Management nicht an einem Wasserfall-Ansatz vorbei. Das klingt nicht innovativ, ist aber dennoch sehr herausfordernd, wenn man es richtig machen möchte. Bei der Bildung des Projektteams sind einige Regeln zu beachten:
- Jede Berufsgruppe sollte vertreten sein, insbesondere Ärzte, Pflege, Abrechnung, Qualitätsmanagement, Finanz-Buchhaltung, Controlling, Apotheke, Projekt-Portfolio Management (so existent)
- Innerhalb der Berufsgruppen sind die unterschiedlichen Ausrichtungen zu berücksichtigen, d.h. Stationsbetrieb, Leistungsstellen, „schneidende“ und „nicht-schneidende“ Arztgruppen
- Angemessene Berücksichtigung aller Standorte, so vorhanden.
- Ausreichende Planung der Kapazitäten des Projekt-Management Offices. Aufgrund des sehr heterogenen Projektteams ist eine Menge Abstimmungsarbeit zu koordinieren – angefangen bei der Konzepterstellung bishin zur Steuerung der umfangreichen Schulungsmaßnahmen.
- Aus allen Kliniken, Leitungsstellen, Stationen und Abteilungen sind Key User zu benennen, die bei Rollout des neuen Systems im Sinne eines „Train the Trainer“ frühzeitig geschult werden. Diese können erweiterte Tests durchführen und basierend auf den konkreten Prozessen wiederum ihre Kolleginnen und Kollegen schulen.
- Sicherstellen, dass das Projekt-Management über einen gewissen „Erfahrungshorizont“ bei der Umsetzung von komplexen Großprojekten verfügt.
- Für die finale Entscheidung strittiger Themen bedarf es der Einrichtung eines Lenkungskreises, in dem auf jeden Fall Geschäftsführung, Ärztlicher Direktor und Pflege-Direktorin vertreten sein sollten.
Externe Berater – notwendig oder überflüssig?
Schließlich muss noch die Gretchenfrage geklärt werden: Werden externe Berater benötigt, und wenn ja, wofür genau? Im Fall des Rheinland Klinikums war von Anfang an klar, dass für die Phase der Systemauswahl bis zum Vertragsabschluss auf jeden Fall externe Unterstützung benötigt wird. Bringt der Berater bereits ein Template für ein Leistungsverzeichnis mit, dann ist dessen Modifikation in jedem Fall leichter und effizienter, als auf der „grünen Wiese“ zu starten.
Bei der Vertragsverhandlung mit dem Hersteller ist es extrem wichtig, über den Berater Zugang zu marktüblichen Preiskomponenten und Usancen zu haben. Der Hersteller hat diese Informationen auf jeden Fall aufgrund zahlreicher Ausschreibungssituationen. Der Auftraggeber, bzw. das Klinikum, sollte daher entsprechendes Know-how einkaufen, um ein Informations-Gleichgewicht herzustellen.
Jeder bekommt den Berater, den er verdient.
Für den weiteren Projektverlauf ist die Notwendigkeit und Rolle der externen Berater individuell zu klären. Wenn der Projektleiter oder das Projekt-Office über zu wenig Erfahrung verfügt, dann ist hier Unterstützung durch Berater durchaus hilfreich. Auch für das Design von Zielprozessen können Berater einen Mehrwert bringen. Allerdings muss darauf geachtet werden, dass die Rolle der Berater klar definiert ist. Zudem ist es während des Projekts zwingend erforderlich, die Leistung der Berater aktiv zu managen. Dabei gilt die Regel „Jeder bekommt den Berater, den er verdient“. Wer sich also über schlechte Beraterleistung beschwert, sollte hinterfragen, inwieweit bei der Auswahl oder dem Management vielleicht selbst die Türen für mangelnde Leistung geöffnet wurden. Das Rheinland Klinikum hat sich für die Projektdurchführung ohne weitere Berater entschieden.
Projektablauf – der lange Weg zum Erfolg

Zwischen der Vertragsunterschrift und dem Go-live lag im Projekt des Rheinland Klinikums eine Zeitspanne von etwa 20 Monaten. Das war deutlich länger als zu Beginn geplant und hatte verschiedene Ursachen.
- Zwischen Vertragsunterschrift und Kickoff vergingen gut drei Monate. In Zeiten von KHZG-Projekten ist das aktuell eher eine kurze Spanne, da auf Seiten der Hersteller die Zusammenstellung des Projektteams ein erhebliches Problem darstellt. Aber auch auf der Seite des Klinikums benötigt es einiges an Vorbereitungen, um insbesondere die Freigabe für die richtigen Projektteam Mitglieder zu bekommen und alle auf die Zusatzbelastung des Projekts einzustellen.
- In der Phase der Konzepterstellung waren mehrfach Eskalationen notwendig, da bei vielen Teammitgliedern trotz Teilfreigabe für das Projekt die nutzbare Arbeitszeit für die Projektaufgabe nicht ausreichte.
- Die Verfügbarkeit der Experten auf der Herstellerseite ist in KHZG-Zeiten erheblich eingeschränkt. Somit ist das Projekt-Office maximal gefordert, die knappen Zeitfenster von internen Projektmitgliedern mit den Verfügbarkeiten der externen Experten in Einklang zu bringen.
- Der ursprünglich geplante Go-live-Termin musste einige Wochen vorher abgesagt bzw. verschoben werden, da die Projektleitung angesichts des Projektstands eine ausreichende Schulungsphase für Key User und anschließend auch die breite Masse der Anwender als nicht ausreichend ansah.
Go-live ohne ausreichende Schulungsphase
Eine Verschiebung des Go-live ist eine zweischneidige Entscheidung. Zum einen ist rational klar begründbar, dass bei zu kurzer Schulungsphase der Go-live schnell kaum händelbare und unschöne Konsequenzen nach sich zieht. Allerdings bedeutet eine Verschiebung auch, dass das Projekt bei allen Beteiligten sofort massiv an Priorität verliert. Das muss aus Sicht der Projektleitung einkalkuliert werden. Die Reaktion darauf ist wie bei einem Leistungssportler. Wenn der anvisierte Wettkampf ausfällt, muss die Trainingssteuerung das berücksichtigen und neu aufsetzen. Ein einfaches „weiter so“ funktioniert nicht.
Das Rheinland Klinikum hat das Restprojekt neu geplant, den Go-live um sechs Monate verschoben und an Stelle eines „big bang“, d.h. Go-live an allen vier Standorten gleichzeitig, ein zwei-stufiges Go-live angesetzt, d.h. jeweils zwei Krankenhäuser starten am gleichen Termin, die beiden anderen im Monatsabstand. Das war auch unter Risikogesichtspunkten ein günstiges Vorgehen und ermöglichte, beim zweiten Go-live-Termin bereits Erfahrung und Erfahrene aus dem ersten Go-live vor Ort einzusetzen.
Im Verlauf des Projekts wurden die ursprünglich sehr ambitionierten Ziele schrittweise auf die Realität angepasst.
Im Verlauf des Projekts wurden die ursprünglich sehr ambitionierten Ziele schrittweise auf die Realität angepasst. Gerade im Bereich der angestrebten Harmonisierung von Prozessen und Abläufen über alle Standorte hinweg zeigte sich, dass die Beharrungskräfte gerade im Rahmen einer Fusion nicht zu unterschätzen sind.
Eine spannende Frage ist schließlich noch, wie gut ein „Key User Konzept“ greift. Angesichts einer Anwendergruppe von über zweitausend Mitarbeitern ist das Schulen durch ein kleines Projektteam unrealistisch. Außerdem stellen die Key User auch eine Möglichkeit dar, die umgesetzten Systemkonzepte konkret anhand der jeweiligen Stations-/Abteilungsprozessen zu testen und darauf aufbauend auch entsprechende Anwender-Dokumentationen zu entwickeln. Soweit die Theorie.
In der Praxis zeigt das Key User-Konzept ein sehr gemischtes Bild. Es gibt durchaus Key User, die dem vorgestellten Vorbild entsprechend ihre Aufgabe verantwortungsvoll ausfüllen. Allerdings gibt es auch Negativ-Beispiele, die weder die Zeit für Testen, Dokumentationen und Schulungen aufbringen, noch die Verantwortung übernehmen, auch für die jeweilige Anwendergruppe als zentraler Ansprechpartner und Experte zur Verfügung zu stehen. Hier ist es wichtig, dass die Projektleitung mit Hilfe des Projekt-Office den Überblick behält und drohende Ausfälle frühzeitig an den Lenkungskreis eskaliert bzw. für entsprechenden Ersatz sorgt.
Go-Live Phase − und die „Ticket“-Folgen
Noch ein Wort zur Go-live-Phase. Insbesondere bei den Anwendern, aber meist auch im Top-Management, ist der Glaube weit verbreitet, dass spätestens zwei Wochen nach Go-live ein stabiler Betrieb mit verbesserter Funktionalität erwartet werden kann. Hier ist klares Erwartungsmanagement unbedingt notwendig: Es muss jedem klar sein, dass in den ersten sechs bis zwölf Wochen nach Go-live eine Flut von Fehlern und Kinderkrankheiten bekämpft werden müssen und dies ein sehr hohes Ticketaufkommen in der Abteilung IT generiert. Die Projektplanung muss hier den Spagat schaffen, dass Projektmitglieder, die stark im Projekt involviert waren, zeitnah Erholungs-Urlaub nehmen können (oder sogar müssen), aber noch genügend Kapazitäten für die Bewältigung der Fehler vorgehalten werden kann.
Erfolgsfaktoren und „Lessons Learned“
Es ist keine neue Erkenntnis, aber tatsächlich wird in der Initialphase des Projekts der Grundstein zum Erfolg gelegt. Dazu gehört die sorgfältige Auswahl des Projektteams und eine erfahrene Projektleitung (entweder über interne oder externe Experten). Die entsprechende Freigabe der Team-Mitglieder vom Tagesgeschäft ist in der Regel eine große Hürde und für sicherlich jedes Klinikum eine immense Herausforderung.
Gerade deshalb sollte in dieser Phase um jede Minute Freiraum gerungen und gegebenenfalls mehrere Verhandlungsrunden mit den entsprechenden Führungskräften gedreht werden. Das Projekt muss in der obersten Hierarchiestufe (Geschäftsführung oder Vorstand) verankert werden. Das heißt hier muss ein Projektpate unbedingt den Erfolg wollen und entsprechend unterstützen. Über diesen Paten kann dann auch ein entsprechend hochrangig besetzter Lenkungskreis ausgewählt und die besagte Freiraum-Diskussion getriggert werden.
Ein anderer wichtiger Faktor ist die Projekt-Kommunikation. Das Projekt sollte jeden Kanal bespielen, der zur Verfügung steht. Das heißt regelmäßige Auftritte in …
- Chefarztrunden
- Verwaltungsrunden
- Abteilungs- und Stationsleitungssitzungen etc.
Das ist genauso wichtig wie regelmäßige Artikel im Intranet, der Mitarbeiter-App, Hauszeitung etc. Auch wenn die regelmäßigen (virtuellen) Projektsitzungen nicht gut besucht sind, sollte die Projektleitung daran unbedingt festhalten und das Team immer wieder zur Teilnahme auffordern. Nur über die intensive Kommunikation lässt sich der Gefahr eines Stimmungseinbruchs entgegenwirken.
Ein neues KIS erfordert das Anpassen oder gegebenenfalls Neu-Entwickeln von Prozessen, die zum neuen System passen.
Für das Rheinland Klinikum war eines der größten Herausforderungen im Projekt, dass das Thema Prozess-Management nicht klar geregelt werden konnte. Ein neues KIS erfordert das Anpassen oder gegebenenfalls Neu-Entwickeln von Prozessen, die zum neuen System passen. Dafür benötigt man Prozess-Experten, die nicht unbedingt mit den Key Usern gleichzusetzen sind. Anwender dürfen sich nicht erst mit dem Tag der Einführung intensiv mit den Prozessveränderungen auseinandersetzen. Das führt zu viel Nacharbeit und eine intensivere Analyse im Vorfeld hätte deutliche Vorteile gehabt.
Das Thema Prozesse entscheidet auch, ob die KIS-Einführung tatsächlich zum Fiasko wird oder zum Neustart führt. Damit ist die wichtigste Erfahrung unseres Projekts in Abweichung eines Zitats von Bill Clinton „It’s the process, stupid!“ Für das Rheinland Klinikum war das KIS-Projekt in jedem Fall kein Fiasko, sondern ein wichtiger Schritt in Richtung der digitalen Transformation!





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