
Es war ein Tweet Anfang November von Dr. Susanne Ozegowski, Abteilungsleiterin Digitalisierung und Innovation im Bundesgesundheitsministerium, der mich hat aufhorchen lassen. Demnach habe man gerade die Gematik damit beauftragt, zu prüfen, welche MIOs zukunftstauglich sind.
Zur Erinnerung: Medizinische Informationsobjekte, kurz MIO, wurden erst 2020 von der KBV festgelegt. Ziel war es, einen Standard für medizinische Daten – beispielsweise in einer elektronischen Patientenakte – festzulegen. MIOs waren als digitale Informationsbausteine gedacht, die universell verwendet und kombiniert werden können – also beispielsweise ein Impf- oder Mutterpass, das U-Heft für Kinder oder auch die Bonuskarte beim Zahnarzt.
Nicht einmal zwei Jahre später stehen die MIOs also wieder auf dem Prüfstand. Aber ist das nun etwas Gutes oder Schlechtes?
Digitalisierung funktioniert nur agil
Grundsätzlich empfinde ich es als positiv, wenn die Zukunftsfähigkeit von neuen (digitalen) Konzepten regelmäßig hinterfragt wird. Wir dürfen nicht vergessen: In vielen Bereichen betreten wir Neuland und der ein oder andere „Fehltritt“ gehört da automatisch dazu. Ihn zu machen, ist keine Schande, wenn man ihn als solchen möglichst zeitnah erkennt und korrigiert. Im Gegenteil: Oftmals ist die Lernkurve gerade dann am größten. Deshalb bin ich ein großer Befürworter davon, Funktion und Nutzen von neuen Lösungen immer wieder zu hinterfragen – und das idealerweise auf Basis agiler Methoden und innerhalb eines kurzen Zeitraums.
Ich weiß, dass es nicht der typischen deutschen Mentalität entspricht, eine offene Fehlerkultur zu leben. Ich denke aber, es lohnt sich, diese zuzulassen. Andere Nationen und Kulturen machen es vor und wir könnten einiges davon adaptieren. Außerdem hat die Bertelsmann-Stiftung hierzu im letzten Jahr ein interessantes Paper veröffentlich und darin die Frage aufgeworfen, ob eine „agile Politikgestaltung eine Chance für Gesundheitsreformen“ sein könnte.
Die Stärke eines agilen Politikstil ist demnach vor allem die schnelle Reaktion auf neue Informationen bei Unsicherheit oder unter Zeitdruck. Die große Chance: Komplexe Themen werden in Teams erarbeitet. Allerdings stelle ein solcher Politikstil auch höhere Anforderungen an politische Entscheidungsgremien und birgt die Gefahr, dass institutionelle Strukturen aufgebrochen werden. Dem gegenüber hat ein konsensualer Politikstil, der alle Akteure berücksichtigt, das Risiko, das notwendige Reformen blockiert werden und dass erste Widerstände bereits bei Formulierungen oder in Abstimmungen zu Tage kommen. Auch deshalb hätten sich die Akteure der Selbstverwaltung gegenseitig blockiert, als es darum ging, das deutsche Gesundheitswesen digitaler zu machen, heißt es in dem Paper.
Bitte nicht immer wieder von vorn
Ein agiler Ansatz hat also das Potenzial, Zeit zu sparen, weil nicht immer wieder von vorn begonnen werden muss. Stattdessen wird in kurzen Sprints das Erreichte überprüft und gegebenenfalls angepasst. Und genau so erreichen wir doch auch das Maximum für Patientinnen, Patienten und Behandler: Wir bieten eine Lösung an, lassen sie in der Praxis testen, sammeln Feedback ein und optimieren. Nicht anders haben es die digitalen Vorreiter jenseits des Atlantiks gehandhabt. Dort wurde der Begriff Minimum Viable Product zum Leben erweckt.
Um all diese Vorzüge einer agilen Arbeitsweise allerdings auch wirklich nutzen zu können, müssen wir durchaus kritisch hinterfragen, ob wirklich auch immer die richtigen Organisationen miteinander sprechen. Oder anders ausgedrückt: Liegt die größte Expertise wirklich bei den handelnden Akteuren, die miteinander sprechen und am Ende des Tages die Entscheidungen treffen?
Das große Ganze gerät aus dem Blickfeld
Ich möchte zwei Beispiele anbringen, die das unter Umständen in Frage stellen könnten. Beispiel eins: die Schnittstellendiskussion. Solange eine Schnittstelle und damit die alles entscheidende Interoperabilität nicht zum Allgemeingut werden, solange beide als Businessmodell genutzt werden, sprechen aus meiner Sicht nicht die richtigen Akteure miteinander. Oder vielmehr stehen die falschen Interessen im Mittelpunkt einer Diskussion, die damit nicht das richtige Ziel anvisiert, das immer lauten muss: Eine qualitativ bessere Versorgung der Patientinnen und Patienten bei gleichzeitiger (langfristiger) Entlastung des Gesundheitssystems.
Ein zweites Beispiel – und hier schließt sich der Kreis zu den MIOs: Datenschutz. Mit diesem Thema könnte man mit Leichtigkeit zwei bis drei Kolumnen füllen und würde der Bedeutung, die es für das deutsche Gesundheitswesen hat, vermutlich immer noch nicht gerecht. Um es an dieser Stelle kurz zu fassen: Solange hier auch weiterhin eine fast schon philosophische Diskussion geführt wird, die letztendlich Leben kostet, sprechen nicht die richtigen Akteure miteinander oder ist schlicht und ergreifend die nötige Expertise nicht vorhanden. Ein eRezept ist für die Digitalisierung des Gesundheitswesens ein Muss. Wenn wir das nicht auf den Weg bringen, können wir auch warten, bis wir von anderswo digitalisiert werden – dann ganz ohne Datenschutz versteht sich.
Mehr Mut
Wofür ich an dieser Stelle werben möchte, ist wie eigentlich immer eine größere Portion Mut. Wenn wir wissen, dass etwas nicht so funktioniert, wie wir es uns vorgestellt haben, warum sollen wir an einmal beschlossenen Sachen festhalten? Die elektronische Patientenakte oder das eRezept funkionieren so nicht? Gut, starten wir mit dem, was funktioniert und machen die Version 2.0 draus. Dafür brauchen wir schnellstmöglich auch einen größeren Wettbewerb. Denn er ist in dieser Phase essenziell. Wenn sich viele Akteure ausprobieren dürfen, trennt sich erfahrungsgemäß sehr schnell die Spreu vom Weizen. Und im Zweifel entscheiden ohnehin die Nutzer aka Patient*innen und Behandler, was gut ist und was nicht.
Wichtig ist nur, dass wir nicht alten Wein in neuen Schläuchen verkaufen. Denn das bringt uns keinen Schritt vorwärts. Das Zeitalter der Monolithen ist vorbei. Wir brauchen Standards, keine Sonderwege, auch das unterstreicht der MIO-Tweet. Letztendlich ist es nicht nur der Politikstil, der agiler werden muss, wir alle müssen beweglicher, schneller und vor allem effizienter werden.





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