
War es Ärzten und Kliniken bisher nur erlaubt, 20 Prozent ihrer Patienten online zu beraten, können sie ihre Videosprechstunden inzwischen auch uneingeschränkt anwenden – sogar, ohne Patienten vorher persönlich in Augenschein genommen zu haben. Das haben die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Gesetzlichen Krankenkassen entschieden. Erst vor zwei Jahren wurde das entsprechende Gesetz gelockert, davor war die Diagnose über Videosprechstunden in Deutschland überhaupt nicht zugelassen. Dennoch gibt es bereits eine ganze Reihe von Anbietern: Mehr als 20 Unternehmen haben sich bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) registriert, vor einem Monat waren es noch halb so viele. Angesichts steigender Corona-Fallzahlen haben sich einige sogar dazu entschieden, ihr Softwareangebot allen Patienten, Ärzten und Kliniken kostenlos anzubieten. Denn das kann Leben retten.
Kostenlose Videosprechstunden
„Als Anfragen unserer Kunden dazu kamen, haben wir nicht gezögert: Man brauchte schnell Hilfe, und die wollten wir leisten. Wir waren sofort überzeugt davon, weil wir wollten, dass möglichst viele das nutzen – auch weil man mit dem ersten Einsatz der Videosprechstunde deren Vorteile begreift“, erklärt Thomas Simon, der Geschäftsführer von CGM Clinical Deutschland, stellvertretend für alle, die Videosprechstunden derzeit kostenlos offerieren. Demensprechend groß ist die Nachfrage auf das Angebot des börsennotierten Softwareunternehmens mit Sitz in Koblenz: Allein in Deutschland nutzen es inzwischen mehr als 24 000 Praxen, insgesamt zählt das Unternehmen derzeit 55 000 Nutzer. Das „Clickdock“ genannte Softwareangebot ist zertifiziert und kann sowohl von niedergelassenen als auch von Krankenhausärzten verwendet werden. Der Zugang dazu ist denkbar einfach: Es läuft als Web-App im Browser und muss daher nicht installiert werden, man benötigt lediglich Internet, PC, Mikrofon und eine Kamera. Nachdem sich Ärzte und Kliniken auf der Unternehmenshomepage einloggen – nötig ist hier derzeit nur Nutzername und Passwort, den Rest übernimmt CGM – schickt das Unternehmen per Mail einen Aktivierungslink und der Account wird freigeschaltet.
Abrechnen lässt sich die Leistung über den Weg des DRG-Systems oder die Kassen. „Der GKV Spitzenverband hat sich mit der KBV dazu geeinigt, nach dem 1. April sämtliche Beschränkungen aufzuheben und die Videosprechstunde zu vergüten“, ergänzt Thomas Simon. Patienten können die virtuelle Sprechstunde allerdings nur dann nutzen, wenn ihr Haus-, Facharzt oder Krankenhaus, bei dem sie in irgendeiner Form in Behandlung sind, auch Clickdock benutzt. Um das zu erfahren, müssen sie sich zunächst mit ihnen in Verbindung setzten. Anschließend wird dort ein Videosprechstundentermin vereinbart, der Patient erhält dazu einen Link per Mail, und los geht´s. „Ein großer Wunsch der Ärzte war, nicht in die Situation zu kommen, aufgrund der Krise quasi von unbekannten Patienten mit Anfragen zu Videosprechstunden überrannt zu werden“, erläutert Michael Franz, Leiter der Markenkommunikation bei CGM.
Termin ohne Erstkontakt
Der seit Ende vergangenen Jahres auch in Deutschland vertretene internationale Telemedizin-Anbieter Kry aus Schweden bietet seine derzeit für Corona-Patienten ebenfalls kostenlose Videosprechstunden-Software dagegen auch ohne Erstkontakt an. Sie funktioniert über eine Smartphone-App. Ärzte erhalten die Zugangssoftware dazu nach einer Anmeldung von Kry und können selbst festlegen, zu welchen Zeiten sie für den Anbieter arbeiten. In diesen Zeiträumen weist er ihnen dann Patienten zu. Um den Andrang in den Griff zu bekommen, nutzt man hier einen elektronischen Fragebogen, der zunächst Krankheitssymptome differenziert: „Wir filtern so jene Patienten heraus, die sich direkt an einen Rettungsdienst wenden müssen“, erläutert Dr. Monika Gratzke, die Medizinische Direktorin von Kry. Momentan können Patienten den Online-Arzttermin aber nur über private Krankenkassen abrechnen – oder als Selbstzahler. Zudem bietet Kry mit der Plattform „Care Connect“ jenen, die Kontakt zu ihren bereits bestehenden Patienten halten wollen, ein zweites Tool für Videosprechstunden an, das als Desktop-Anwendung läuft und derzeit ebenfalls gratis ist. „Den Zugang erhalten Ärzte über einen Link von uns, man braucht dazu nur einen Browser, Mikrofon und Webcam“, ergänzt Monika Gratzke. Diese Anwendung lässt sich unabhängig von Kry nutzen, Ärzte müssen dazu also nicht für den Videodienstleister arbeiten und können ihren Kunden hierzu einfach einen Link senden.
Terminbuchung über Klinikwebsite
Um unnötige Ansteckungsrisiken zu vermeiden, ist auch die Videosprechstunde der Firma Samedi mit Sitz in Berlin bis Ende Juni kostenlos. Ein vorheriger Erstkontakt ist hier ebenfalls nicht von Nöten. Die virtuelle Vernetzungslösung kann in Arztpraxen, Kliniken und OP-Zentren unabhängig von Größe und Fachrichtung eingesetzt werden: Ein Patient bucht die Videosprechstunde – die für ihn über Webbrowser erreichbar ist – online, erhält eine Terminbestätigung mit den Zugangsdaten, der Arzt wird über die Anwesenheit des Patienten im virtuellen Wartezimmer benachrichtigt und die Videosprechstunde beginnt. Abrechnen lässt sich die Leistung sowohl für privat als auch für gesetzlich Versicherte. Ärzte und Kliniken bekommen das Programm über Samedi als Software as a Service. Neben einem Patientenportal, auf dem alle teilnehmenden Ärzte und Kliniken zu finden sind, die sich Patienten selbst aussuchen können, gibt es gerade für jene, die bereits Kontakt mit einem Krankenhaus hatten, eine direktere Terminbuchungsmöglichkeit: „Jede Klinik hat ihren eigenen Buchungslink. Wenn sie etwa in die Charité möchten, dann können sie das auch direkt über deren Website buchen und müssen dazu nicht erst auf unsere Homepage gehen“, erklärt Katrin Keller, Geschäftsführerin von Samedi.
Im Gesundheitswesen überfällig
Die Vorteile solcher virtuellen Arzttermine sind vielfältig: Neben dem geringen Ansteckungsrisiko können Patienten nicht nur Wegstrecken und Wartezeiten sparen, Ärzte und Krankenhäuser weiterhin Kontakt zu ihren Kunden halten, den Patientenandrang in Notaufnahmen reduzieren, Untersuchungstermine festlegen oder auch einfach nur Fragen abklären, für die kein direkter Kontakt von Nöten ist. Das gilt nicht nur in Corona-Zeiten, auch wenn dieser Nutzwert vielen erst durch die Krise klarzuwerden scheint. Allein Kry vermeldete im März eine Zunahme an Sprechstunden zu viralen Infektionen um mehr als 580 Prozent, Samedi zählt mittlerweile ganze 700 Kliniken zu seinen Kunden. Die Hoffnung, dass viele die virtuellen Arzttermine weiter nutzen werden, dürfte daher durchaus berechtigt sein. „Dieser wesentliche Schritt der Digitalisierung im Gesundheitswesen ist längst überfällig“, unterstreicht Dr. Martin Holderried, Geschäftsführer des Zentralbereichs Medizin für Struktur-, Prozess- und Qualitätsmanagement am Universitätsklinikum Tübingen. Dieser Meinung ist auch Dr. Peter Gocke, Chief Digital Officer der Charité: „Viele Videosprechstunden werden sicher nicht wieder verschwinden.“







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