
Überlastung und Erschöpfung prägen den Arbeitsalltag von Ärztinnen und Ärzten in Deutschland. Die Gründe sind altbekannt: Personalmangel, lange Arbeitszeiten, zu viel Bürokratie. Doch immer häufiger verschärfen zusätzlich Aggression und Gewalt vonseiten der Patienten und Angehörigen die ohnehin belastende Arbeitssitution. Das geht aus der Mitgliederbefragung MB-Monitor 2024 des Marburger Bundes (MB) und einer Onlinebefragung der Ärztekammer Schleswig-Holstein hervor.
Kurative Medizin für viele keine dauerhafte Perspektive
„Eine zunehmende Anzahl von angestellten Ärztinnen und Ärzten in den Kliniken sieht keine dauerhafte Perspektive in der kurativen Medizin“, berichtet Dr. Susanne Johna, 1. Vorsitzende des Marburger Bundes. Die Ergebnisse gehen aus den Angaben von 9649 Umfrage-Teilnehmenden hervor. Das Problem: Der Bedarf an ärztlicher Arbeitskraft wird in den nächsten Jahren weiter zunehmen, sobald die Babyboomer in den Ruhestand gehen.
Krankenhäuser müssten die Bedingungen so gestalten, dass Höchstgrenzen eingehalten werden, flexible Arbeitszeitmodelle zur Anwendung kommen und auch ausreichend Kinderbetreuungsmöglichkeiten vorhanden sind. „Und natürlich muss der Personalschlüssel so bemessen sein, dass nicht zwei die Arbeit von dreien machen“, ergänzt Johna.
Umfrageergebnisse zu Arbeitsbelastungen (MB-Monitor)
- 49 Prozent der Befragten fühlen sich häufig überlastet.
- 11 Prozent geben an, ständig über ihre Grenzen zu gehen.
- Bei 38 Prozent hält sich der Stress in Grenzen.
- nur zwei Prozent empfinden bei ihrer Arbeit keinen Stress.
- Auf die Frage „Erwägen Sie, Ihre ärztliche Tätigkeit in der Patientenversorgung ganz aufzugeben?“ antworten 28 Prozent mit „ja“, 56 Prozent mit „nein“ und 16 Prozent mit „weiß nicht“. Im Jahr 2022 lag der Anteil derer, die einen Berufswechsel in Erwägung ziehen, noch bei 25 Prozent.
Ein wesentlicher Grund für die hohe Belastungssituation liege in der unzureichenden Personalausstattung. 59 Prozent der Befragten beurteilen die ärztliche Personalbesetzung in ihrer Einrichtung als „eher schlecht“ (43 Prozent) oder „schlecht“ (16 Prozent), 37 Prozent sehen sie als „eher gut“ an und nur fünf Prozent als „sehr gut“. 42 Prozent der Befragten haben in ihrer Einrichtung in den vergangenen zwei Jahren einen Abbau ärztlicher Stellen erlebt, ebenso viele verneinen dies. 17 Prozent machten hierzu keine Angaben.
Ein großes Ärgernis für viele bleibt die IT-Ausstattung an ihrem Arbeitsplatz: Zwei Drittel sind mit der technischen Situation an ihrem Arbeitsplatz „eher unzufrieden“ (38 Prozent) oder „unzufrieden“ (27 Prozent). „Eher zufrieden“ zeigen sich 30 Prozent, „sehr zufrieden“ sind nur fünf Prozent. So verbringen Ärztinnen und Ärzte aufgrund der Mängel in der IT-Ausstattung viel mehr Zeit vor dem Bildschirm als nötig. Durch nnötige Bürokratie gehen etwa drei Stunden an Arbeitszeit pro Tag verloren.
Es kann doch nicht sein, dass diejenigen, die anderen helfen, bei ihrer Arbeit traumatisiert werden.
Diese belastenden Arbeitsbedingungen werden nun verschärft durch zunehmende Aggression der Patienten und Angehörigen. „Die Umfrage-Ergebnisse zu den Gewalterfahrungen von Ärztinnen und Ärzten sind ein Alarmsignal“, gibt Johna zu bedenken. Ärzte stünden ohnehin unter enormem Druck, etwa durch lange Arbeitszeiten, hohe Verantwortung und den ständigen Kontakt mit schwerkranken Patienten.
Zwar seien bei manchen Patienten Aggressionen Teil des medizinischen Problems, erklärt Johna, diese Fälle seien aber deutlich von „einer Vielzahl von inakzeptablen Anfeindungen und Übergriffen“ zu unterscheiden. Schutzmaßnahmen und ein gesellschaftliches Umdenken seien daher dringend erforderlich. „Es kann doch nicht sein, dass diejenigen, die anderen helfen, bei ihrer Arbeit traumatisiert werden“, kommentierte sie.
Die Ergebnisse haben ein erschreckendes Bild geliefert.
Laut der Umfrage sind 12 Prozent der Ärztinnen und Ärzte in Kliniken häufig mit Beschimpfungen, Beleidigungen und anderen Formen verbaler Gewalt im beruflichen Umfeld konfrontiert, ein Drittel manchmal. Körperliche Gewalt erleben zehn Prozent im beruflichen Umfeld, beispielsweise in Form von Schlägen oder Tritten gegen sich oder andere Mitarbeitende „manchmal“, zwei Prozent „häufig“. 41 Prozent berichten über eine Gewaltzunahme in den vergangenen fünf Jahren.
Eine Onlinebefragung der Ärztekammer Schleswig-Holstein im Januar bestätigte dieses Bild. Viele Ärztinnen und Ärzte im Norden nehmen einen Anstieg der Gewalt gegenüber ihrer Berufsgruppe wahr. „Die Ergebnisse haben ein erschreckendes Bild geliefert“, sagte die Vizepräsidentin der Kammer, Doreen Richardt, bei der Vorstellung der Ergebnisse in Kiel. Teilgenommen haben rund 1700 der etwa 15 000 berufstätigen Kammermitglieder. Das sei eine für Umfragen hohe Beteiligung.
Umfrageergebnisse zu Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzten (Ärztekammer Schleswig-Holstein)
- 46 Prozent gaben an, dass Gewalt gegenüber Ärztinnen und Ärzten in den vergangenen drei Jahren zugenommen hat.
- ein Prozent nimmt eine Abnahme der Gewalt wahr.
- 49 Prozent der befragten Medizinerinnen und Mediziner sind bereits persönlich von Gewalt betroffen gewesen.
- 55 Prozent der Vorfälle betrafen verbale Gewalt, wie Drohungen oder Beleidigungen.
- In 32 Prozent der Fälle gab es körperliche Angriffe.
- In jedem dritten Fall wurde die Polizei eingeschaltet.
Auswirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis
Die Vorfälle haben demnach verschiedene, zum Teil erhebliche Auswirkungen: 15 Prozent der Befragten litten unter psychischen Folgen wie Schlafstörungen, Albträumen oder Panikattacken. Fünf Prozent benötigen eine Therapie zur Verarbeitung der Erlebnisse. In zehn Prozent der Fälle führten die Übergriffe zu körperlichen Verletzungen, etwa durch Bisse oder Schnittwunden. Das wirkt sich auch auf ihr Arbeiten generell aus. 38 Prozent gaben an, dass ihr Verhalten gegenüber Patienten nach einem Vorfall distanzierter und weniger empathisch geworden sei.
Als Hauptgründe für die gestiegene Gewaltbereitschaft nennen die Teilnehmenden beider Studien am häufigsten Probleme, die im körperlichen und geistigen Zustand der Patienten begründet sind, darunter Drogen- und Alkoholmissbrauch sowie psychiatrische Erkrankungen. Aber auch überzogene Anspruchs- und Erwartungshaltungen der Patienten, eine „allgemeine Verrohung und Enthemmung in der Gesellschaft“, Unzufriedenheit mit der Gesundheitspolitik sowie kulturelle Missverständnisse seien ausschlaggebend für die Übergriffe. Besonders häufig eskaliere die Situation im Zusammenhang mit strukturellen Problemen, etwa bei der Forderung nach schnellen Terminen, bestimmten Rezepten oder Untersuchungen.
Notfallknöpfe und Sicherheitsdienste
Meistens gehe verbale oder körperliche Gewalt von Patienten oder Angehörigen aus. Die Vorfälle passieren hauptsächlich in Notaufnahmen oder auf den Stationen. Schutzmaßnahmen vor Gewalt am Arbeitsplatz, z.B. Sicherheitspersonal und spezifische Schulungen wie Deeskalations-Trainings, müssen an vielen Krankenhäusern und Gesundheitseinrichtungen erst noch etabliert werden. 41 Prozent der Mitglieder des Marburger Bundes geben an, dass es solche Schutzmaßnahmen an ihrer Einrichtung gibt, genauso viele verneinen dies. 18 Prozent wissen es nicht.
Bei der Schleswig-Holsteiner Umfrage gab rund die Hälfte der Praxen und Krankenhäuser an, Notfallknöpfe installiert, Fluchtwege angepasst oder Deeskalationstrainings durchgeführt zu haben. Aber auch der Einsatz von Sicherheitsdiensten und erteilte Hausverbote werden genutzt, um das Personal zu schützen.
Es braucht eine gesamtgesellschaftliche Debatte
„Wir brauchen mehr Aufklärung durch breit angelegte Kampagnen, ausreichend Personal in der direkten Patientenversorgung und adäquate Schutzmaßnahmen für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte und das Pflegepersonal“, betont Dr. Susanne Johna. Das sei jedoch nicht nur eine Aufgabe der Krankenhäuser, sondern auch der Politik.
Doreen Richardt spricht zudem von dem Wunsch nach strengeren Gesetzen zur Ahndung von Gewalttaten sowie eine schnellere Bearbeitung von Beschwerden. „Die Gesundheit und Sicherheit derjenigen, die tagtäglich für das Wohl der Patienten sorgen, darf nicht gefährdet werden“, betonte sie.
Hintergrund: MB-Monitor des Marburger Bundes
9649 angestellte Ärztinnen und Ärzte haben vom 27. September 2024 bis zum 27. Oktober 2024 an der Mitgliederbefragung MB-Monitor 2024 des Marburger Bundes teilgenommen. Die vom Institut für Qualitätsmessung und Evaluation (IQME) durchgeführte Online-Umfrage ist die größte Ärzte-Befragung in Deutschland. Rund 90 Prozent der Befragten arbeiten in Akutkrankenhäusern und Reha-Kliniken, acht Prozent in ambulanten Einrichtungen. Die Hälfte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer (53 Prozent) war zum Zeitpunkt der Umfrage nicht älter als 40 Jahre. Entsprechend ihrem wachsenden Anteil in der Versorgung sind 54 Prozent aller Befragten weiblich.
Weitere Informationen und eine grafische Darstellung der Ergebnisse finden hier hier.






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