Schwierige Entscheidungen
Viele Fragestellungen, denen die Mitglieder des Deutschen Ethikrats seit Beginn der Corona-Pandemie nachgingen, seien nicht neu, sagt die Wissenschaftlerin. Mit der Frage von Triage sei etwa das Fach der Medizinethik seit Jahrzehnten befasst. In ihrer philosophischen Abschlussarbeit setzte sie selbst sich mit Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen auseinander. Darin ergründete sie unter anderem die Fragen, was zu tun sei, wenn es zu wenige Beatmungsgeräte für zu viele Kranke gebe und wer Vorrang haben solle, wenn die Zahl der Bedürftigen die Zahl der Intensivbetten übersteige. „Neu ist, dass aus der Theorie Praxis geworden ist“, schildert sie die besondere Situation in der Pandemie. Dass anfangs wenig über das Corona-Virus bekannt gewesen sei und sich die Lage ständig geändert habe, habe die Arbeit des Ethikrats herausfordernd gemacht. „Es war so, als würde man einen Pudding an die Wand nageln“, verdeutlicht sie. Manche Entscheidungen seien darum besonders schwierig gewesen. „Wir haben deshalb stets transparent gemacht, dass sich unsere jeweiligen Empfehlungen immer auf die momentane Situation der Corona-Pandemie bezogen haben, das hat sich als klug herausgestellt“, erläutert sie. Generell sei der Ethikrat lediglich ein beratendes Gremium, dessen Empfehlungen für Politikerinnen und Politiker nicht bindend seien.
Fühlt sie sich als Vorsitzende des Ethikrats unter Druck, sich überall und jederzeit vorbildlich zu verhalten? „Nein“, sagt sie und muss lachen, „in meiner Freizeit bin ich eine normale Privatperson.“ Wichtig sei, für sich selbst Räume zu schaffen, die privat blieben. Sie sei sowieso nicht jemand, der stark polarisiere. Die Positionen, die sie als Vorsitzende des Ethikrats, aber auch als Professorin für Medizinethik vertritt, hält sie selbst für eher moderat.
Aufgaben und Themen des Deutschen Ethikrats
Dem Deutschen Ethikrat gehören derzeit 24 Mitglieder an, darunter sind viele Wissenschaftler, zum Beispiel Mediziner, Biologen, Theologen und Juristen. Die Mitglieder werden vom Präsidenten des Deutschen Bundestages ernannt. Das ehrenamtliche Gremium ist nicht weisungsgebunden und sucht sich seine Themen selbst, kann aber auch Aufträge aus der Politik annehmen. Aufgabe des Ethikrats ist es, die öffentliche Debatte über ethische Themen zu befördern und die Politik in ethischen Fragen zu beraten. Die Politikerinnen und Politiker können den Empfehlungen des Ethikrats folgen, müssen es aber nicht.
Das Plenum des Ethikrats trifft sich einmal im Monat, um über ethische Fragen zu debattieren. Das Themenspektrum reicht von der Gen- und Präimplantationsdiagnostik über Sterbehilfe, künstliche Intelligenz und Organspende bis hin zu Intersexualität und anonymer Kindesabgabe. Dabei geht es häufig um Fragen der Gerechtigkeit und Solidarität sowie den Schutz schwächerer Bevölkerungsgruppen. Während der Pandemie fanden die Äußerungen und Empfehlungen des Gremiums besonders starke Beachtung.
„Man muss nicht perfekt sein“
Müssen sich Frauen stärker durchsetzen und mehr kämpfen als Männer, um in hohe Führungspositionen zu gelangen? Bei dieser Frage runzelt sie die Stirn und korrigiert, Frauen seien nicht selten in Führungspositionen vertreten, nur weniger. Nein, sie sei nicht anders behandelt worden als Männer, werde aber durchaus immer wieder sexistisch angegangen. Ihr habe bei ihrer Karriere geholfen, dass sie mit Professorin Schöne-Seifert ein Vorbild hatte, an dem sie sich orientieren konnte und die ihr vieles vorgelebt habe. An weiblichen Rollenvorbildern mangele es aber häufig, das erschwere Frauen den beruflichen Aufstieg. „Da muss sich noch etwas tun“, sagt sie. Ansonsten sei entscheidend, sich selbst etwas zuzutrauen. Sie ermuntert junge Frauen, sich einen Ruck zu geben und mit mehr Mut ihren eigenen Weg zu gehen. „Man muss nicht 120-prozentig perfekt sein und alles schon können und wissen, 100 Prozent genügen auch“, appelliert sie. Männern reiche auch mal bereits ein Know-how von 70 Prozent, um überzeugt zu sein, dass sie perfekt für eine Führungsrolle gerüstet seien, das wäre gut belegt. „Ich habe zudem häufig andere um Rat gefragt“, sagt sie und empfiehlt dies auch anderen Frauen. „Man ist nie allein, man kann sich immer Unterstützung holen.“
Aus der Pandemie lernen
Und welche Themen hat sie sich für die nächsten Monate vorgenommen? Womit möchte sie sich als Vorsitzende des Ethikrats und als Wissenschaftlerin künftig befassen? „Eine große Herausforderung wird sein zu analysieren, was wir aus der Corona-Krise in ethischer Hinsicht lernen können und wie wir uns auf eine mögliche nächste Pandemie, aber auch auf andere Krisen, vorbereiten können“, erläutert Buyx. Weiterhin werde der Rat sich mit den Themen Suizidassistenz sowie Mensch und Maschine, also künstlicher Intelligenz, befassen. Bei letzterem Themenfeld, an dem sie selbst an der Technischen Universität München forscht, geht es darum, die Datenbasis und die Funktionsweise der Algorithmen kritisch zu hinterfragen. Häufig sei nämlich unklar, nach welchen Prinzipien die Daten ausgewertet würden. Als problematisch sieht sie es auch an, dass bei der Programmierung von Algorithmen ab und zu Datensätze zum Einsatz kämen, die nicht die tatsächliche Realität widerspiegelten. „Das verzerrt das Ergebnis“, sagt sie. Eine zentrale Frage werde auch sein, welche Folgen es haben kann und wie verantwortbar es ist, wenn Algorithmen künftig ohne menschliche Kontrolle agieren können. Sie beschreibt es so: Die Frage sei, ob „the human in the loop“ bleibe oder „out of the loop“. Wer ist verantwortlich, wenn sich Menschen komplett zurückziehen und den Algorithmen das Feld überlassen? „Das ist ein Bruchpunkt“, sagt sie. Sie persönlich sei der Ansicht, dass immer Menschen die Kontrolle behalten müssten, also für „human in the loop“.
Mittlerweile ist die Online-Konferenz beendet und auch der vereinbarte Zeitrahmen für das Interview ausgeschöpft. Die hochhackigen Pumps, in die sie für die Fotos geschlüpft ist, hat Buyx längst wieder mit bequemen Turnschuhen vertauscht. Sie atmet kurz durch, bietet noch einmal mitgebrachte Kekse an und entschuldigt sich erneut für die Hektik. Sagt es, verabschiedet sich und eilt den Gang entlang zum nächsten Termin.





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