
Der Historiker Niall Ferguson bezeichnet die richtigen Institutionen als wesentlichen Erfolgsfaktor für Prosperität und Fortschritt. Mit der Einführung der Sozialgesetzgebung im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden wichtige Grundsteine für eine umfassende Gesundheitsversorgung für die breite Bevölkerung gelegt. Die dahinterstehenden Institutionen von den Kostenträgern bis zur späteren Selbstverwaltung und den Akteuren der Exekutive entstanden im Zuge der Ausgestaltung unseres deutschen Gesundheitssystems.
Aber sind diese Institutionen noch zeitgemäß? Erfüllen wir mit unserer SGB-orientierten Strukturierung der Leistungserstellung die Bedürfnisse einer modernen Gesundheitsversorgung? Und sind die Voraussetzungen gegeben, um auf die so unterschiedlichen regionalen Besonderheiten einzugehen? Wahrscheinlich würde die breite Mehrheit der Personen, die im Gesundheitswesen tätig sind, verneinen. Wir sollten also dringend über neue Institutionen nachdenken.
Institutionelle Leistungssteuerung, aber richtig!
Die geeigneten Institutionen suchen wir bereits bei der Leistungsplanung vergeblich. Während die duale Krankenhausfinanzierung seit mehreren Jahrzehnten in der Kritik steht, konnte auch die aktuelle Krankenhausreform, wenn sie diesen Namen überhaupt verdient, die unterschiedliche Kapazitätsplanung der 16 Bundesländer nicht überwinden und zu einer umfassenden Neuausrichtung beitragen. Dazu kommt eine völlig von der stationären Versorgung getrennte ambulante Kapazitätsplanung. Beide Planungsparadigmen tun so, als würde die andere Welt gar nicht existieren.
Dabei suchten Wissenschaft und Praxis ebenfalls seit Jahrzehnten nach geeigneteren Versorgungsstrukturen, die sowohl die regionalen Bedürfnisse adressieren als auch die sektorale Trennung überwinden wollten. Tonnen von Literatur liefern einen umfassenden Erkenntnisreichtum, der jedoch nicht in echte Strukturveränderungen übersetzt wurde. Der G-BA als Institution selbst, wie auch die einzelnen Institutionen der Selbstverwaltung dürften das Hauptproblem dieser Misere sein.
Es ist völlig nachvollziehbar, dass die jeweiligen Interessenvertretungen ihre Ziele durchsetzen müssen. Und es ist auch klar, dass die Interessen häufig gegenläufig sind. Wir dürfen nicht vergessen, dass im Gesundheitswesen ein mittlerer dreistelliger Milliardenbetrag umgesetzt wird, an dem vielen Akteure verdienen. Partikularinteressen stehen in diesem sich selbst verwaltenden System natürlich immer über den Interessen der Allgemeinheit oder der Patienten. Mithilfe der Politik haben die bestehenden institutionellen Akteure ein hochkomplexes System geschaffen, dass mit Mikromanagement jeden Versorgungsbereich bis ins kleinste Detail reguliert.
Wir befinden uns bereits in einer Interventionsspirale, die ein Management des Gesundheitssystems auf allen Ebenen zunehmend unmöglich macht. Das sehen wir bereits an allen Ecken und Enden der Versorgung. Während die Leistungserbringer in Bürokratie untergehen, eine Explosion der Krankenkassenbeiträge droht und die Digitalisierungsagentur Gematik zur Behörde umgebaut wird, melden Kliniken und Pflegeeinrichtungen reihenweise Insolvenz an und der niedergelassene Sektor dünnt sich schleichend aus.
Agile, regionale Versorgungsstrukturen müssen her
Mit den derzeitigen Planungs- und Vergütungsparadigmen werden wir keinen echten Strukturwandel erreichen. Der Organisationsexperte Frédéric Laloux plädiert für evolutionäre Organisationsformen, um die Dynamiken und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. Diese Organisationsform zeichnet sich durch Ganzheitlichkeit, Selbstorganisation, eine verteilte Entscheidungsfindung oder ein höheres Ziel aus. Letzteres könnte eine Patienten-zentrierte Versorgung sein.
In einem evolutionär organisierten Gesundheitssystem wären die Organisationseinheiten jedoch regional strukturiert. Es gibt nur wenige bundeseinheitliche Regelungen. Mit welchen Akteuren und in welcher Form die Leistungen einer Region ausgestaltet werden, entscheidet jedoch die Institution vor Ort. Somit könnten die Unterschiede regional sehr groß sein. Aber auch alle Beteiligten Leistungserbringer sind nach wie vor involviert. Nur eben nicht auf Landes- oder Bundesebene über KVen oder Krankenhausgesellschaften. Es sollten in dieser Institution auch Apotheker, sonstige Therapeuten und weitere Stakeholder involviert werden, ohne dass jede Institution gleich aussehen muss.
Die regionale Institution kann dann Budgets mit den Kostenträgern verhandeln. Dadurch könnten auch besondere Versorgungsschwerpunkte gesetzt werden. Das Vergütungsparadigma wäre hin zu einer regionalen Kopfpauschale weiterentwickelbar. Die allseits gewünschte Präventionsmedizin könnte dann ihren Weg in die Versorgung finden. Denn mit diesen Institutionen erhalten die Regionen die hinreichende Autonomie, über das Leistungsangebot gemeinsam zu entscheiden, ohne Markteintrittsbarrieren von außen.
Alle Planungsinstanzen wären damit obsolet. Die Verhandlungen über Budgets könnten auf einer höheren Ebene gemeinsam erfolgen, sodass beispielsweise regionale Vergütungsmodelle genutzt werden können, die bereits positiv in Innovationsfondprojekten getestet wurden, aber es nicht in die Regelversorgung geschafft haben. Das SGB könnte deutlich entschlackt werden. Über Marktmechanismen können gezielter Anreize geschaffen werden, die regionalen Bedürfnisse abzudecken – in den Städten wie auf dem Land. Statt einer One-Size-Fits-All-Regulierung haben regionale Institutionen die Möglichkeit die Details individuell auszuhandeln. Die Effizienz und Agilität wird deutlich erhöht.
Gesundheitspolitik in der Sackgasse
In der Gesundheitsökonomie fand in den vergangenen Jahren eine zunehmende Ausrichtung auf mikroökonomische Probleme statt. Die politische Ökonomie und die damit verbundenen Institutionen zur passenden Ausgestaltung einer zeitgemäßen Gesundheitsversorgung blieben dabei weitestgehend unberücksichtigt. Eigentlich sagen alle Experten, dass unser Gesundheitssystem kaum noch reformierbar ist. Zu viele gegenläufige Partikularinteressen und politische Entscheidungskalküle treffen auf ungeeignete Institutionen. Ohne neue Institutionen werden wir der Bevölkerung kein zukunftsfähiges Gesundheitssystem anbieten können. Nebenbei gesagt ist das auch das größte Hemmnis der digitalen Transformation des Gesundheitswesens. Denn hier haben wir genau diese Probleme auf die Ausgestaltung des Digitalisierungsfortschritts heruntergebrochen.
Man hätte von einem Gesundheitsminister, der oft als Gesundheitsökonom bezeichnet wird und als Mediziner und Public Health-Experte seit zwei Jahrzehnten in die gesundheitspolitischen Entscheidungsprozesse involviert ist, mehr zielführende Impulse erwarten können. Karl Lauterbach ist auf allen Ebenen gescheitert. In seiner Amtszeit hat sich die Versorgung deutlich verschlechtert. Der Minister hatte in den frühen 2000ern einige gute Ideen und den nötigen Idealismus, eine gerechte und hochqualitative Medizin für die breite Bevölkerung zu ermöglichen. Nach 20 Jahren ist außer Aktionismus und leere Versprechungen nicht viel geblieben. Dabei wäre er genau der richtige gewesen, sich der Aufgabe einer institutionellen Neuausrichtung zu stellen. Er hätte die Expertise und die Kenntnis über das deutsche Gesundheitssystem gehabt, wie kaum ein anderer Gesundheitsminister vor ihm. Die Schaffung neuer Institutionen muss ganz oben auf die Agenda seiner Nachfolgerin in diesem Amt!





Derzeit sind noch keine Kommentare vorhanden. Schreiben Sie den ersten Kommentar!
Jetzt einloggen